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„FOLGEN SIE DIESER FRAU…“
LAUDATIO AUF ANDREA BRETH
Akademie der Künste Berlin, 5. Sept. 2021
„Folgen Sie dieser Frau“, sagte einst Joana Maria
Gorvin spontan zu Andrea Clausen, nachdem sie Andrea Breths Inszenierung
von Ibsens „Gespenster“ gesehen hatte. Und die junge
Schauspielerin – sie war in „Gespenster“ die
Regine Engstrand und hat zuvor in Julien Greens „Süden“ mitgespielt
- hat diesen Rat beherzigt und seitdem viele Rollen in Aufführungen
von Andrea Breth gespielt – in Bochum am Schauspielhaus,
in Berlin an der Schaubühne, deren künstlerische Leiterin
Andrea Breth für einige Jahre war, und in Wien am Burgtheater.
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Mehr noch: Den Rat von Frau Gorvin machten sich viele Schauspielerinnen
und Schauspieler zu eigen – sie alle zusammen ergaben und ergeben
schon über viele Jahre hin insgeheim ein illustres, der Regisseurin
verbundenes Ensemble, das in seiner künstlerischen Individualität,
Energie und Beständigkeit seinesgleichen sucht.
Warum folgten und folgen Andrea Clausen, Johanna Wokalek, Corinna
Kirchhoff, Roland Koch, August Diehl, Wolfgang Michael, Imogen Kogge,
Libgart Schwarz, Angela Schmid, Jens Harzer, Peter Simonischek, Elisabeth
Orth, Sven-Eric Bechtolf, Traugott Buhre, Nicole Heesters, Rolf Schult,
Hans-Christian Rudolph, Johann-Adam Oest, Thomas Thieme, Ulrich Matthes,
Markus Meyer, Sabine Haupt, Branko Samarovski, Hans-Michael Rehberg, Katharina
Tüschen, Bernd Birkhahn, Bärbel Bolle, Cornelius Obonya, Michael
König, Udo Samel, Christoph Luser, Marie Burchard, Philipp Hauß,
Oliver Stokowski, Nicholas Ofczarek… und immer wieder der Sänger
Georg Nigl: warum folgten und folgen sie alle dieser Frau? Einer Regisseurin,
die in ihrer Arbeit größte Konzentration, Offenheit und leidenschaftliche
Hingabe einfordert, auch mit Strenge und mit Unbedingtheit. Und da sie
stets mehr als nur Theater will, verlieh ihr Klaus Völker den treffenden
Titel: Die Unbedingte.
Es sind gerade die eigenständigen, selbstbewußten Schauspielerinnen
und Schauspieler, die sich, weil ihnen nettes Wohlfühltheater nicht
genügt, weil sie kein Gefälligkeitstheater wollen, freiwillig
der permanenten Herausforderung, ja sogar wahnwitzigen Überforderung
durch diese unbedingte Frau hingeben. Kann schon sein auch mit Lust von
Zeit zu Zeit…
Dieses herrlich widerspruchsvolle Ensemble setzt sich immer wieder
der „teuflischen Intelligenz und Intuition“ von Andrea Breth
aus. Solch besonders gefährliche und besonders kostbare Eigenschaften
hatte der große, französische Schriftsteller Julien Green der
Regisseurin und Wiederentdeckerin seines Schauspiels „Süden“ staunend
und bewundernd attestiert. In dieser Bochumer und auch zum Berliner Theatertreffen
gezeigten Aufführung offenbarte sich ein traumwandlerisches Gespür
für Stimmungen aller Valeurs, für untergründige Gefahren
und Ahnungen.
Beim Erleben ihrer Inszenierungen habe ich immer das Gefühl, Andrea
Breth hat vielleicht doch das zweite Gesicht, denn sie weiß mehr
als der Autor, weil sie den Autor absolut ernst nimmt, demütig ernst – und
dadurch zu den schönsten, erhellenden Entdeckungen kommt. Oder zur
bannenden Darstellung, deren Gewalt geradezu körperlich spürbar
wird. Spürbar nicht als eine selbstherrliche Geste, sondern weil
es der Inhalt des Werkes ist, der zur Erscheinung kommt. Es war dieser
Tage erneut erlebbar, sogar digital unmittelbar ergreifend erlebbar im
Stream aus Brüssel, aus dem Théâtre Royal de la Monnaie:
mit Benjamin Brittens Oper „The Turn of the Screw“, die auf
einer Erzählung von Henry James basiert. Das Kinderpaar, die Sängerinnen
und Sänger, das kammermusikalisch besetzte Orchester, der kulissenhaft
beweglich schillernde Bühnenraum von Raimund Orfeo Voigt mit seinen
Lichtstimmungen und Farben verbinden sich ingeniös zu einem schier
atemlos machenden Vorgang voller Geheimnisse. Die Faszination liegt in
der bestürzenden Erkenntnis: Das Geheimnis selbst und dessen Unerklärbarkeit
sind der Inhalt und die Wahrheit dieser Oper. Diese Wahrheit gilt es auszuhalten.
Andrea Breths Inszenierung erzählt all das mit einer schwebenden
Leichtigkeit, die doch nur durch eine minutiöse Genauigkeit erreichbar
ist. Aus der Summe der subtilen Nuancen entsteht ein unwiderstehlicher
Mahlstrom, der ins Licht des Abgrunds oder auch in einen schwarzen Himmel
führen mag. Die Freiheit, das zu entscheiden, gibt Andrea Breth dem
Zuschauer selbst.
Julien Greens auch erschrockene Feststellung gilt der Intelligenz
einer Regisseurin, die mit großer Phantasie gesegnet ist. Vielmehr
gesegnet mit einer ausgesprochen kreatürlich bildhaften Phantasie,
die mir als Zuschauer für jede Figur eine konkret reale Welt eröffnet.
Oft wird nur durch ein winziges Detail eine ganze Existenz jäh offenbar.
Wenn Georg Nigl (an der Staatsoper Berlin ) als Wozzeck in Alban Bergs
Oper nach der Tötung von Marie für eine ewige Sekunde strammsteht
und Habacht-Stellung einnimmt, begreifen wir schlagartig, daß eine
armselige, erbarmenswürdige Soldatenexistenz einen Menschen total
verbiegt und schließlich zerstört. Das war keine Pose, das
war pure Not. Posen und eitles Posieren läßt Andrea Breth nie
zu. Auch und gerade nicht in der Oper! Schon gar nicht auf der Bühne
des großen Salzburger Festspielhauses. Im idealen, klangschön
vibrierenden Zusammenspiel mit Daniel Barenboim und den Wiener Philharmonikern
gelingt mit Tschaikowskys „Eugen Onegin“ ein schmerzliches
Seelen- und rauschhaftes Gesellschaftspanorama von geradezu Tschechowscher
Klarheit. Opernsänger entpuppen sich mit großer Selbstverständlichkeit
als wahre Menschendarsteller. Was nach Routine oder Manieriertheit aussieht
ist Andrea Breth immer ein Greuel. Sie weiß genau: Die schlichte
Inständigkeit im Zeigen der Gefühle beseelt selbst die größte
Bühne. Das Festspielpublikum in Salzburg dankte mit Jubel!
Wählt Andrea Breth einen Dichter oder Komponisten - und das geschieht
nie leichtfertig, manchmal auch quälend langwierig voller Umwege
-, so liefert sie sich dem Werk aus. Das passiert mit bohrend penibler
unnachsichtiger Genauigkeit und intuitiv nachtwandlerisch zugleich. In
dieser Ambivalenz sucht und findet sie die Blaue Blume. Nicht die Blume
der Romantik, die Blume der Erkenntnis. Zwar ist es selten, aber dann
doch exemplarisch, daß Andrea Breth mit ihrer Suche zweimal ansetzt:
Kleists „Der zerbrochne Krug“ am Burgtheater mit Traugott
Buhre als Dorfrichter Adam; und viele, viele Jahre später erneut
bei der Ruhrtriennale mit Sven-Eric Bechtolf als Adam. Das war beileibe
keine Korrektur, das war wie der Januskopf des Theaters. Der Kleist in
Wien großes dunkel glühendes Welttheater, Adam und Eva, die
Schöpfungsgeschichte und den Sündenfall im Blick. Im Ruhrpott,
in der Essener Zeche Zollverein, ein luzider Realismus – wie eine
Mozart-Oper nur mit Worten und glasklar musiziert. Es ist für Andrea
Breth immer der Text selbst, aus dem die Modernität spricht, es sind
nicht Zutaten, keine Aktualisierungen, kein Zukleistern, keine Oktroyierungen,
will sagen Überschreibungen, wie es heute im flinken Theaterjargon
heißen würde. Aus einer strikt auf den Dichtertext konzentrierten
Haltung gelingen Geniestreiche wie „Hamlet“ (mit August Diehl)
in Wien in der ganzen Fülle grausamer Wahrhaftigkeit, wie Lessings „Emilia
Galotti“ mit der herzergreifenden Unschuldsschönheit der Johanna
Wokalek im Wiener Akademietheater, wie Schillers „Don Carlos“ als
ein grandioses Zeitstück unserer Tage am Burgtheater. Bei „Don
Carlos“ keine, wie heute so oft üblich, Reduzierung auf eine
minimale Sparflamme-Besetzung, nein, das große Personal des ganzen
Staatsapparats ist bis in die kleinsten Rollen ausgebreitet und so entsteht
wie von selbst die totale Überwachungsmaschinerie, in der Privates
und Politisches, Liebesleidenschaften und Staatsintrigen sich unheilvoll
tödlich verquicken. Philipps Escorial wird zu einem gefräßigen
Staatsmoloch, der auch den König (Sven-Eric Bechtolf) zu verschlingen
droht. Als ob Friedrich Schiller schon 1787 den bedrohlichen Zustand der
Welt im 21. Jahrhundert geahnt haben könnte. Das Pathos dieser Aufführung
kommt aus der genau gedachten und genau gefühlten Sprache, es ist
nie hohle Rhetorik, es ist konkrete, auch heftige Leidenschaft für
die jeweilige Situation. Selbst Requisiten bekommen einen tieferen Sinn:
Philipp schält in der zentralen Szene mit Marquis von Posa eine Orange.
Aus Gleichmut, aus Verlegenheit, aus Ignoranz? Um die heftigen Attacken
des Marquis abperlen zu lassen? Der große Philipp wird dadurch plötzlich
das, was er ist, ein hilfloser Mensch gefangen im System seiner Politik.
Aus vielen solcher Details baut Andrea Breth eine bedrohliche Welt. Das
Bühnenbild von Martin Zehetgruber und die Bühnentechnik der
Burg mit all ihren Finessen und Möglichkeiten spielte für diese
Atmosphäre eine bestimmende Rolle, lautlos, unheimlich, gefährlich – so
sehr, daß ein Gastspiel beim Berliner Theatertreffen nicht sein
konnte, denn in keiner Berliner Bühne war die Aufführung des
Burgtheaters technisch möglich. Immerhin war ein Gastspiel in Berlin
mit ihrer Inszenierung von „Zwischenfälle“ möglich,
zwar nicht beim Theatertreffen, wo diese brillante Aufführung als
ein Wunder des Theaters unbedingt gezeigt hätte werden müssen,
aber in der „spielzeiteuropa“ der Berliner Festspiele. In „Zwischenfälle“ – eine
Folge von 30 Kurz- und Kürzestszenen gespielt von 10 Darstellern
in 90 Rollen, Szenen von Daniil Charms, Henry Cami und Georges Courteline – feiert
die Symbiose von elementarer Schauspielerkomik und Virtuosität der
Bühnentechnik Triumphe und steht dabei ganz beiläufig in der
sehr wienerischen Tradition des Maschinen- und Zaubertheaters à la
Ferdinand Raimund; Bühnenbild, wie so oft bei Andrea Breth, von Martin
Zehetgruber, Kostüme von Moidele Bickel. „Zwischenfälle“ war
auch ein tolles Fest irrwitzigster Katastrophen und schauspielerischer Überraschungen:
Hans-Michael Rehberg beherrschte als Dirigent des musizierenden Ensembles
ganz souverän die Schlagtechnik eines Pierre Boulez; Roland Koch
und Peter Simonischek lieferten sich, in jeder Vorstellung improvisierend,
einen wüsten Boxkampf der Worte und Gesten, der an Absurdität
nicht zu überbieten war und gerade dadurch den chaotischen Zustand
unserer Welt zeigte. „Zwischenfälle“ war ein Rausch des Übermuts,
der fröhlichen Bosheit, des kauzigen Tiefsinns, der brutalen und
zarten Körperlichkeit, des schwarzen und immer noch schwärzer
werdenden Humors - und über allem schwebte musikalische Poesie. Es
war, liest man die Chroniken von einst, als ob Jürgen Fehlings genialische
Theaterpranke, die ein Faible für Leichtsinn und höheren Blödsinn
hatte, ausgerechnet in Wien Wiedergeburt gefeierte hätte. Kann schon
sein, daß die Regisseurin, der häufig der große und tiefe
Ernst nachgesagt wird, sich im Geheimen gesagt hatte: „Ich möcht`
mich einmal mit mir selbst zusammenhetzen, nur um zu sehen, wer der Stärkere
is, ich oder ich“. Sie ist in jedem Fall immer die Stärkere,
denn dass sie Komödie und selbst überdrehtesten Boulevard auch
kann, hat sie mit Ayckbourns „Schöne Bescherungen“ in
Bochum längst bewiesen, fulminant und zum Vergnügen von Schauspieler
und Publikum.
Sie konnte schon von Anfang an sehr viel: so kam ich 1977 aus
dem Staunen nicht heraus, als ich in Darmstadt das Gastspiel
ihrer Wiesbadener Inszenierung von Strindbergs „Der Vater“ gesehen
habe; die Arbeit einer mir noch unbekannten jungen Regisseurin
mit einem unspektakulären Ensemble, doch spannend wie ein
Hitchcock-Film. Und - das hatte mich besonders beeindruckt, weil
ich eine solch empfindsame Haltung zu einem Stück bisher
nur in Aufführungen von Hans Bauer, Werner Düggelin
und Rudolf Noelte gesehen habe – Andrea Breth war absolut
gerecht zu allen Figuren des Stücks. Dieses mich elektrisierende
Erlebnis begründete meine bleibende Aufmerksamkeit und Neugier
für ihre Arbeit. Daß Jahre zuvor der damals noch jüngere
Frankfurter Dramaturgieassistent, der ich einmal war, mit seinem
ersten Programmheft zu einer Aufführung von „Peterchens
Mondfahrt“, die für Andrea Breth die theatralische
Initialzündung für ihre Zukunft gewesen ist, wie sie
selbst in dem schönen Buch von Irene Bazinger erzählt,
für sie auch eine Anregung gegeben haben könnte, wage
ich natürlich nicht zu behaupten. Den aufmunternden Auftrag „Paßt
also gut auf!“, den Anno 63 mein Programmheft, ein Malbuch
mit Text, den Kinder gegeben hatte, praktiziere ich allerdings
bis heute mit Zuneigung für Andrea Breths Kunst. Deswegen,
allein deswegen, erlaube ich mir doch einmal einen Wunsch zu äußern.
Andrea Clausen erzählte in einem Gespräch mit Klaus
Dermutz: „Ich kenne keinen Regisseur, der Liebe oder Liebesverlust,
Unsicherheiten einer Liebe, die Trauer um eine Liebe, so ernst
nimmt wie Andrea“.
Ich hoffe, „diese Frau“ wird einmal Andrea Clausens
genaue Beobachtung auch mit Mozarts „Così fan tutte“ wahr
machen. Ich hoffe, sie wird Liebesenthusiasmus und Liebesbitterkeit,
Liebesglück und Liebesschmerz dieser Oper so entlocken,
wie es ihr bei Tschechow, Ibsen, Shakespeare, Kleist und Schiller
gelingt; wie sie es uns so beseelt und unbestechlich genau bei
Arthur Schnitzler gezeigt hat. Ganz gewiß vermag sie, Mozart
und Lorenzo Da Ponte mit Schnitzlers „Traumnovelle“ zu
verbinden, denn sie kann uns menschliche Geheimnisse auf der
Bühne begreifbar machen und zugleich das Recht des Theaters
immer wieder vor Augen führen.
Andrea Breth weiß um das wahre Herz des Theaters.
Joana Maria Gorvin war eine große Schauspielerin und sie
war, wie ihre Lebensgeschichte bezeugt, ein große Liebende!
Der Preis, der ihren Namen trägt, ist ein Bekenntnis zur
Wahrheit und Schönheit des Theaters.
Liebe, liebe Andrea, von Herzen gratuliere ich Ihnen zu diesem
schönen und besonderen Preis!
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Der Spagat
In einem Gespräch mit einer Schulklasse über Wilhelm Tell fragt
mich plötzlich ein Bub, was ein Dramaturg sei. Da ich diese Frage
eigentlich nicht beantworten kann, hole ich, wenn mir diese Frage
gestellt wird, meist weit aus und beginne mit den alten Griechen.
Ein Philosoph der Antike ist nämlich der erste Dramaturg gewesen,
was natürlich nicht heißt, dass ein Dramaturg auch ein Philosoph
sein muss. Jedenfalls ist der Dramaturg als Denkmaschine ans
Theater engagiert. Manchmal ist er auch eine Art Papierkorb für
jene Arbeiten, die übrig bleiben, weil keiner sich dafür zuständig
hält. Und so pendelt der Dramaturg täglich zwischen den Polen "Denkfabrik" und "Mädchen
für alles und nichts" .
Wer aber diesen täglichen Spagat aushält oder gar auf Dauer überlebt - der
ist tatsächlich ein Dramaturg.
Aus: Theaternarren leben länger. |
MEINE LEHRREICHE KATASTROPHE
„Du machst es nicht gut…auch Dein Zorn gibt dir
dazu kein Recht…“ – dieser strenge Vorwurf
von Max Frisch an Friedrich Dürrenmatt nach dessen überfallartigem
Auftritt bei einer Pressekonferenz des Basler Theaters im Oktober
1969 korrespondiert für mich mit einer Aufforderung, die Dürrenmatt
an mich richtete, als wir im August 1968 auf einer Probe im alten
Basler Stadttheater zusammensaßen. „Du mußt mich kritisieren“,
sagte er unvermittelt zu mir, dem jungen Dramaturgen der neugegründeten
Basler Theater.
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Damals begann in Basel mit dem neuen Theaterdirektor Werner
Düggelin, den alle Welt nur als DÜGG kennt, ein euphorisch
gefeierter Neubeginn. FRITZ, so wurde Dürrenmatt von allen
genannt, gehörte ganz zentral zu diesem Neubeginn. Seine
Aufforderung zur Kritik empfand ich als Ehre, konnte ich
nur als Ehre empfinden, war mir doch Dürrenmatt noch kurze
Zeit vorher als Schulstoff begegnet. Eine herrlich unkomplizierte
Zusammenarbeit – Fritz war das freundlichste und hilfreichste
Ensemblemitglied – währte ein schönes langes Jahr und
nahm doch plötzlich, wie in einer Dürrenmatt-Komödie, die
schlimmstmögliche aller Wendungen, nämlich in eine völlig
unnötige Katastrophe, die nicht nur in den Schweizer Bergen
widerhallte.
Das Bündnis Dürrenmatt – Basler Theater zerbrach mit
einem beispiellosen Eklat, obwohl Dürrenmatt dieser Zusammenarbeit
mit „König Johann“ und „Play Strindberg“ zwei
Welterfolge verdankte. Es war Dürrenmatts Traum, in Basel
endlich das zu finden, was Brecht mit dem Berliner Ensemble
verwirklichen konnte – eine schöpferische Theaterwerkstatt,
um für sich eine neue Theatersprache zu entwickeln. Dennoch:
trotz oder sogar wegen dieser beiden Welterfolge zerschellte
das Bündnis an einem simplen Faktum, das Dürrenmatt einfach
nicht wahrhaben wollte: Das Basler Theater war und ist ein
typisches Stadttheater und eben kein höchst privilegiertes
Staatstheater, wie es das BE einst gewesen ist. Und schon
gar nicht konnte dieses Basler Theater die Funktion einer
Rehabilitationsanstalt übernehmen, wiewohl Dürrenmatt dies,
nach einem schweren Herzinfarkt kurz nach seiner „Play
Strindberg“-Premiere, von uns kategorisch einforderte,
als ob wir, seine Kollegen, die Ursache seines Infarktes
gewesen wären. Die Ursache war wohl, so spekuliere ich heute,
seine unbändige Lust, ja Gier, alles am Theater in seine
Klauen zu kriegen, sein Drang, gleichzeitig Regie zu führen
und zu schreiben. Eine selbstgewählte Selbstüberanstrengung.
Nun griff er als Rekonvaleszent in den Spielplan ein; er
reklamierte Stücke als Bearbeiter und Regisseur für sich;
er forderte willkürlich personelle Veränderungen. „Werft
mich doch auf den Schindanger!“, rief er mir einmal
zu. War es die Angst, nicht mehr schreiben zu können? War
es Panik vor Armut? („Ach, Herr Beil, machen Sie sich
keine Sorgen“, beruhigte mich mild lächelnd Dürrenmatts
damaliger Bühnenverleger Kurt Reiss.) Oder war es ein geradezu
kindlich-kindischer Trotz, mit seinem Spielzeug Theater partout
nur so zu spielen, wie er es unbedingt wollte? War es gar
die hundsföttische Intrige eines Schauspielers, der sich
durch Dürrenmatts Einfluß eine neue Karriere erhoffte und
also dessen Schwäche schamlos ausnutzte? Was war es, das
Fritz dazu trieb, den Dügg „mit Rufmord erster Klasse“,
wie Frisch es kritisierte „zur Sau zu machen“?
Bis zur Selbstverleugnung bemühten wir uns, auf Fritz und
seine Launen einzugehen - bis es eben nicht mehr ging und
das Ensemble einen Riegel vorschob.
Der prinzipielle Konflikt zwischen Dürrenmatts schönem Traum
und dem immer auch mühevollen Alltag eines mittelgroßen Dreispartentheaters
mündete in einer Explosion. Mag sein, Fritz erhoffte sich
sich meine Parteinahme für seinen Umsturz der Verhältnisse,
denn daß er kein Theater leiten könne, mußte selbst ihm klar
gewesen sein. Aber Verrat war nie meine Sache und dennoch
empfand ich alles, was passierte, als meine persönliche Niederlage,
weil ich es nicht zu verhindern wußte. Am Ende wollte Dürrenmatt
unsere Direktion, wenn er sie schon nicht übernehmen konnte,
mit einem gewaltigen Knall in die Luft jagen. Es gelang ihm
nicht. Seine Fouls bewirkten das Gegenteil. Er scheiterte
nicht nur mit seinem von ihm inszenierten Spektakel, er beflügelte
das Ensemble zu einer geradezu enthusiasmierenden Energie,
die Dürrenmatts fatale Verwünschungen spielend hinwegfegte
und bis zum Ende von Düggs Direktion über sechs Jahre anhielt.
Zu Fritz Dürrenmatts Wahrheit gehört aber auch, daß er Jahre
später, wieder an das von ihm auch schon einmal geschmähte
Zürcher Schauspielhaus zurückgekehrt, in einem Gespräch mit
der Schweizer Zeitschrift „Weltwoche“, seine Zeit
am Basler Theater als „die schönste Zeit seines Lebens“ pries.
Für mich allerdings war es tatsächlich eine höchst lehrreiche
Katastrophe, deren mich fast überfordernde Zerreißproben
ein elementares Training waren für alle weiteren: in Stuttgart,
in Bochum und – natürlich – in Wien, dieser
Stadt der allerlustvollsten Theaterkatastrophen.
(geschrieben für die Wiener "Presse am Sonntag" am 14.
März 2010, die von André Heller redaktionell alleinverantwortlich
gestaltet worden ist.)
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FÜR DÜGG
DÜGG, mit bürgerlichem Namen Werner Düggelin,
ist ein einzigartiger Pyromane. Ein humaner Pyromane, er entzündet
nämlich sich selbst. Er entzündet sich an Menschen,
ich sage bewußt Menschen und gerade nicht Schauspieler,
obwohl er Schauspieler liebt wie kein zweiter. Er entzündet
sich an Geschichten und eben nicht an Ideen oder Themen oder
abstrakten Behauptungen. Vor allem entzündet er sich an
Leidenschaften. Sein Feuer ist somit schöpferisch.
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DÜGGS Inszenierung von Ben Jonsons „Volpone“ am
Zürcher Schauspielhaus in Barbara Freys erstem Direktionsjahr
ist die Entdeckung eines alten Stücks als wahres Stück
der Stunde. Diese Entdeckung geschieht, indem DÜGG ohne
modischen Firlefanz messerscharf auf den Kern des Stücks
zielt und durch ein inspiriertes Spiel seines Ensembles diesen
Kern zum Leuchten bringt. Seine Spielfassung erzeugt Erkenntnis
als höchstes Vergnügen. Der monströse und zugleich
wundersam graziöse André Jung in der Titelfigur,
die undurchschaubare Eleganz des Johannes Zirner als Mosca
und das feine Zusammenspiel aller erzeugen eine hellsichtige
Studie über menschliche Gier, also über unseren heutigen
Zustand.
Einst im theaterseligen Basel habe ich bei DÜGG viel gelernt. Und immer
mehr lerne ich heute staunend von DÜGG, wenn ich eine seiner Inszenierungen
sehen kann. (2011)
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„Wer liebt schon das Theater?“
Rede
zur Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Rings an Barbara Nüsse
Bensheim, 20.März 2010
Diese Frage stellte
mir vor ein paar Wochen ein Taxifahrer, der mich nach Berlin-Mitte
zur Volksbühne kutschierte. Ich schwieg, aber der Taxifahrer
fragte ungeniert weiter „Lieben Sie das Theater?"
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Wann hab’ ich diese Frage zum letzten Mal gehört?
Und wann hab’ ich sie mir das letzte Mal selbst gestellt?
Die tägliche Selbstverständlichkeit meines Berufs als
Dramaturg läßt eine solche Frage nicht zu, sie ignoriert
sie sogar, denn sie wäre doch zu hinderlich. Insofern brachte
mich der Taxifahrer durchaus in Verlegenheit. Was sollte ich
ihm schon sagen? Die Wahrheit? Eine schöne Lüge? Der
Satz meines Gevatters Peter Turrini: „Theater besteht nur
aus Maskerade, aber gerade das ist das Aufrichtige an ihm“ schießt
mir sogleich durch den Kopf, und ich wollte ganz gelassen antworten:
Mein Herr, das geht Sie gar nichts an, doch ich sagte unwillkürlich,
vielleicht um Zeit zu gewinnen: „Natürlich. Natürlich
liebe ich das Theater. Was sonst?“
Und damit saß ich in der Falle, denn jener Taxifahrer
ließ sich von meinem „Natürlich“ keineswegs
beeindrucken. „Und das Theater? Liebt das Theater auch
Sie?“ fragte er völlig ungerührt. Auf diese mich
verblüffende Frage wußte ich in der Sekunde keine
Antwort. Ich wüßte allerdings auch keine Antwort auf
die Frage, ob der liebe Gott mich liebt, ob der liebe Staat mich
liebt, ob unsere liebe Post und unsere sehr liebe Deutsche Bahn
mich lieben könnten. Eine Mutter wird ihr Kind lieben. Ein
Vater mag seine erzieherische Strenge als Liebe verstehen. Ein
Liebespaar träumt, vor und in Liebe zueinander zu vergehen.
Aber wie kann das Theater einen Menschen lieben und wie verdient
er diese Liebe?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte verzeihen Sie mir,
wenn ich heute hier zu diesem schönen Anlaß aus einer
Rede zitiere, die ich vor 13 Jahren (auch anläßlich
der Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Rings) hier in Bensheim halten
durfte. Damals erhielt Corinna Harfouch den Preis, und es war
ihre Vorstellung in der Berliner Volksbühne, zu der ich
mit dem Taxi gefahren bin.
Von Anbeginn fühlte und fühle ich mich mit diesem
mittlerweile wirklich herausragenden Schauspielerpreis, der doch
in Wahrheit ein Schauspielkunst-Preis ist, verbunden, denn viele
Schauspieler, mit denen ich über die Jahre und an verschiedenen
Orten zusammenarbeiten konnte, haben diesen Preis bekommen. Und
alle haben diesen Preis verdient, wenn wir Theater nicht sektiererisch
verstehen, sondern als einen universellen Ausdruck des Lebens
in künstlerischer Form. Durch die Schauspielkunst können
wir immer wieder erleben, daß uns das Theater liebt. Nur
durch die Schauspielkunst, denn nur diese Kunst verwandelt das
Wort in Spiel, Geste, Mimik, nur diese Kunst erfindet jene Bilder,
jenen Tonfall, jene atemlose Stille, die sich unvergeßlich
im Gedächtnis einprägen.
So habe ich Barbara Nüsses menschliche Not im Gesicht der
Gina in der Stuttgarter „Wildenten“-Aufführung
des Jahres 1978 immer noch vor Augen oder ihre Qual der vergeblichen
Liebe im Bochumer „Torquato Tasso“ 1980. Ähnliches
könnte ich von vielen Schauspielerinnen und Schauspielern
erzählen, die den Eysoldt-Ring bekommen haben. Mehr noch:
die illustre Namensliste der Preisträger bildet in Summe
ein tolles Ensemble, ein einmaliges Ensemble. Und hoffentlich
bleibt es nicht nur ein Traum, – nächstes Jahr zur
25. Eysoldt-Ring-Verleihung –, alle Preisträger
nach Bensheim einladen zu können, um mit einer gemeinsamen
theatralischen Improvisation die Leuchtkraft dieses Eysoldt-Ensembles
zu zeigen und dabei zu beweisen, welches Glück Theater zu
schenken vermag. Bensheim wäre dann für einen Tag der
Mittelpunkt des deutschsprachigen Theaters. Für einen
ganzen Tag. Immerhin. So manche Theatermetropole schafft im ganzen
Jahr nicht einmal einen halben Tag, behaupte ich.
Es ist für mich eine sehr persönliche Freude, daß Barbara
Nüsse den Gertrud-Eysoldt-Preis 2009 für ihre eindringliche
Darstellung des König Lear in Karin Beiers Inszenierung
am Schauspiel Köln bekommt.
Ich danke unserer Jury, ich danke Peter Iden, Hans Dieter Jendreyko
und Burkhard C. Kosminsky für ihre so gute Entscheidung.
Klaus Völker danke ich für seine Entscheidung Tilmann
Köhler und seine Dresdner Inszenierung von Brechts „Heiliger
Johanna der Schlachthöfe“ den Kurt-Hübner-Regie-Preis
zuzuerkennen. Brechts Johanna, die einst bei ihrer Hamburger
Uraufführung 1959 als angeblich überholt abgetan worden
ist, scheint heute das Stück der Stunde zu sein – und
das mit Recht. Aber als Stück der Stunde muß es auch
inszeniert werden. Tilmann Köhler hat das getan.
Meine Damen und Herren, den Dank der Deutschen Akademie
der Darstellenden Künste und meinen persönlichen Dank
an die Stadt Bensheim, die ich nun in meiner neuen Funktion allein
in den letzten fünf Monaten als eine großzügige,
den Theaterkünsten geneigte Kommune kennengelernt habe,
möchte ich mit einem dringenden Hinweis an uns alle verbinden.
Den Hinweis auf und die Warnung vor Gefahren, die zurzeit in
deutschen Landen lauern: Gefahren durch fragwürdige Entscheidungen
wie z.B. in Köln, wo ganz bewußt gegen den Sachverstand
und Rat der am Ort arbeitenden Theatermacher agiert wird, und
völlig unsinnig die Abrißbirne gegen das denkmalgeschützte
Schauspielhaus in Gang gesetzt werden soll. Oder Gefahren
durch drohende Theaterschließungen aus purem bitterem Geldmangel
wie z.B. in Wuppertal, ohne daß Hülfe zuteil wird
von denen, die gewiß helfen könnten, wenn sie nur
wollten, ich meine die Düsseldorfer Landesregierung.
Theaterschließungen sind eine schlimme Perversion des
eigentlichen Sinns von Sparen. Sparen heißt doch im Ursinn
des Wortes: das Leben schonen, das Leben bewahren. Der König
im Märchen, so heißt es doch, „sparte ihm das
Leben“, d.h. er schenkt das Weiterleben. Warum ist es so
schwer, eine solche Geste in unserer politischen Praxis zu üben?
Wenn Theater, die zur Seele einer Stadt gehören, geschlossen
werden, ist nichts gespart, aber unendlich viel zerstört,
es kann nichts mehr entstehen.
Ohne das Schauspiel Wuppertal hätte es nie Pina Bausch
geben können. Ohne das Schauspiel Wuppertal wäre Barbara
Nüsse vielleicht Ärztin, Lehrerin, Richterin geworden
oder sie hätte gar die Leitung der väterlichen Maschinenbaufirma übernommen – aber
weil sie eben in ihrer Schul- und Jugendzeit das fabelhafte Wuppertaler
Schauspiel erleben konnte, wurde sie eine wunderbare Schauspielerin.
Im Theater erfahren wir, welche beflügelnde Macht die Phantasie
ist.
Das Theater als eine zutiefst menschliche Institution, als eine überaus
sinnliche und kluge Form menschlichen Zusammenspiels wird uns
lieben, wenn wir es lieben.
Gewiß, Liebe läßt sich nicht erzwingen, aber
wer gelernt, begriffen und erfahren hat, daß Theater absolut
lebens-notwendig ist, für den höret seine Theaterliebe
nimmer auf.
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WIR SIND HALT KOMISCHE LEUT‘
Vor sieben Jahren waren es 92 Torten, die wir George Tabori
an seinem 92. Geburtstag am 24. Mai 2006 im BE überreicht
hatten. Am 24. Mai 2013 wären es natürlich 99 Torten
gewesen und wiederum einige mehr zur Aufmunterung.
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Diese Torten entstanden wie sein Theater: wenige Zutaten und
nur leichte Zutaten in feiner Balance. Es kommt ja immer auf
die richtige Mischung an – und auf die Geduld in der
Zubereitung. Hektik bewirkt gar nichts. Die achtzehn Stunden,
die ich für die Torten in der Backschule der Berliner
Bäckerinnung verbrachte , verflogen dennoch äußerst
kurzweilig, ging es doch um ein poetisches Gebilde zum leibhaftigen
Genuß: die Tabori-Torte. Diese Torte - französischen
Ursprungs und ins Wienerische abgewandelt - vermag durchaus
eine Art Rausch zu bewirken. Jedenfalls hat das Publikum all
die Torten in einer Dreiviertelstunde verputzt und doch keine
Nebenwirkungen verspürt außer dem Bedürfnis
nach mehr. George selbst hat auf seine Weise unser spontanes
Tortenfest weitergeführt: Seinem nächsten Stück,
es wurde sein letztes und ein Jahr später uraufgeführt,
gab er den Titel „Gesegnete Mahlzeit“. Im Essen
sah George, der doch gar kein so großer Esser war, einen
spirituellen Verwandlungsvorgang. „Iß, Söhnchen,
nicht aus Hunger, sondern in der Hoffnung, eine Kraft in dich
aufzunehmen, die du in all den kommenden Jahren brauchen wirst…“ gibt
der Koch Lobkowitz seinem Freund Schlomo Herzl als Rat in „Mein
Kampf“.
Immer verbindet Tabori das Essen mit Hoffnung.
In „Jubiläum“ – geschrieben zum Gedenken
an den 30. Januar 1933 – bricht am Ende des Stücks,
das auf einem Friedhof spielt, der Musiker Arnold, der immer
noch verzweifelt betet, daß man in Auschwitz doch nur
Brot gebacken habe, einen Laib Brot, den ihm sein toter Vater
als Geschenk gebracht hat, und gibt jedem ein Stück als
Zeichen der Versöhnung. (“ MITZI: Schmeckt komisch.
ARNOLD: Wir sind halt komische Leut‘.“) Und in
Taboris erstem in Deutschland aufgeführten Theaterstück
(es ist seinem in Auschwitz ermordeten Vater Cornelius gewidmet,
die geradezu schicksalhafte Premiere war 1969 in der Schiller-
Werkstatt) wurde das Essen, wurde Menschenfleisch als Menschenspeise
zum zentralen, nicht nur bildhaften, sondern ganz und gar realen
Vorgang. Das Stück hat den lapidaren Titel „Kannibalen“.
Die Berliner Aufführung wühlte die Menschen zutiefst
auf und polarisierte die Meinungen. Für Rolf Michaelis
war der begeisterte Applaus ein Argument gegen das Stück. „ Da
fragt man sich doch“, so schrieb er in Theater heute, „ob
ein deutsches Theater (schon) der rechte Gerichtshof ist, vor
dem verhandelt werden darf, ob ein Jude, um zu überleben,
einen anderen Juden fressen darf…“ Für Friedrich
Luft hingegen waren Stück und Aufführung ein „Wunder“.
Die konträren kritischen Haltungen begegneten in den kommenden
Jahrzehnten oft Taboris Theaterarbeit. Er wohl aber sah im
deutschsprachigen Theater durchaus den richtigen „Gerichtshof“ und
entschied sich zu bleiben und hier zu arbeiten, auch wenn es
in den ersten Jahren für ihn sehr oft sehr mühsam
war. „Meine Heimat ist ein Bett und eine Bühne“-
das genügte ihm, um seine Themen darzustellen. Er hatte
die gelassene Gewißheit, irgendwann werden die großen
Theater ihre Bühne auch ihm freigeben.
Und so kam es schließlich,
denn Taboris Theater ist einzig. Wie sein Witz. Selbst in seinen
Träumen. „Ich hatte einmal einen lustigen Alptraum“,
erzählte George Tabori gelegentlich, „ zwei kannibalistische
Kritiker wollten mich als Rindsroulade verspeisen. Da sitzen
sie vor dem Topf, und der eine schaut hinein und sagt: ‘Also
eigentlich mag ich den Tabori nicht‘. Da sagt der andere:‘ Na
dann iß nur die Nudeln‘.“ Ob Tabori wohl
Nudeln mochte? Seine Leibgerichte waren Bratkartoffeln, von
Ursula Höpfner gemacht, auch Palatschinken (Palacsinták)
und natürlich das Wiener Schnitzel, das ihn sogar zu einem
Theaterstück inspirierte, zur „Ballade vom Wiener
Schnitzel“. Bei Tabori wurde Alltäglichkeit zu Metaphorik,
sagte er doch stets von sich: „Ich bin ein Spielmann“.
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DER STAATSKÜNSTLER
Februar 2001 (Veröffentlicht in der Süddeutschen
Zeitung)
Verkehrte Welt. Ausgerechnet in Berlin bin ich erstmals als
Wiener gefragt. Immer wieder soll ich Kommentare zur politischen
Wende in Österreich abgeben. Ich müßte doch froh
sein, nicht mehr in Wien zu arbeiten, wird mir ahnungslos suggeriert.
Ahnungslos, weil keiner Karl Kraus’ so treffendes Gedicht über
das Berliner Theater kennt.
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Die Süddeutsche Zeitung will gar einen grundsätzlichen
Artikel, die Basler Zeitung eine dicke Schlagzeile. Merkwürdig,
in Wien war meine politische Meinung nie gefragt, schon gar
nicht über Deutschland – und jetzt streift mich
ein kurios aufgeregter Wirbel, den im Grunde ein gewisser
Dr. Jörg Haider. entfacht hat. Diese Dr. Haider ist
Chef der FPÖ, der Freiheitlichen Partei Österreich,
die alle Freiheiten für sich beansprucht, um anderen
sie einschränken zu können. „Wenn Peymann
geht, wird Österreich Kulturnation“ – so „mutig
in die neuen Zeiten schreitend“, hat noch selten ein
Politiker geschwärmt. Ist dieser überraschende
Bekennermut mehr als eine Augenblickslaune? Jedenfalls ist
hier von jenem Dr. Haider. die Rede, dem alles zu jeder Zeit
opportun sein kann, und der, wie bekannt, eigentlich Schauspieler
werden wollte. Er wurde es nicht und schauspielert stattdessen
in der Politik, zwar nicht in der Weltpolitik, wie er es
wohl gerne hätte, aber immerhin lokal: Der Oberösterreicher
mimt einen Kärntner. Zudem schart er, mit feiner Spürnase
für Talente seiner Art, Kollegen um sich, die ebenfalls
künstlerischen Ambitionen frönen. Mangelnde theatralische
Begabung und Bildung aber darf in Dr. Haiders. Spielschar
durch Lautstärke und Impertinenz wettgemacht werden.
Phantasie kennt eben weder Grenzen noch Geschmack. Als Dr.
Haider. das Werden der österreichischen Kulturnation,
die ihm auch schon einmal als „Mißgeburt“ galt,
visionär prophezeite, gab es freilich noch keine blau-schwarze
Regierung und unsere Burgtheaterdirektion währte noch
eine Zeit, stets attackiert als ein Ort der Subversion und
der „subventionierten Staatsbeschimpfung“. Umso
energischer betreibt Dr. Haider. nun, also fünf Jahre
später, unter dankbarer Duldung seines christlichen
Schauspielpartners, den er geschickt mit der Kanzlerrolle
besetzt hat, sein Lieblingsprojekt. Hieß es vor Jahren
einmal „Österreich fit machen für Europa“ – der
Slogan der rot-schwarzen Koalition für Österreichs
Beitritt in die EU –, so könnte die Parole bei
Blau-Schwarz nun lauten „Österreich fit machen
für Österreich“. Politik ist ja so einfach:
einer verläßt ein Theater, ein anderer kommt – unter
Bruch aller hochheiligen Wahlversprechen – an die Regierung
und schon hat alles ganz praktische Folgen, nämlich
für die Menschen. Zum Beispiel, daß ein Journalist,
der dieser Wendung nicht huldigt, aus seiner Zeitung rausgeschmissen
wird. Aber das ist ja nicht der Rede wert, hat doch jeder
die Chance zur freiwilligen Selbstanpassung. Es soll ja alles
anders werden, tönt es frohgemut im ganzen Land. Wie
sehr Österreich in so kurzer Zeit tatsächlich Kulturnation
geworden ist, und Träume gewiß keine Schäume
mehr sind, wird demnächst die ganze Welt im Wahlkampf
um das Wiener Rathaus staunend erfahren. Dr. Haiders. alles
bewegende Partei will es nicht mehr nötig haben, mit
rassistischer und fremdenfeindlicher Agitation Stimmung um
Stimmen zu machen. Man weiß doch selbst am besten,
was alles Wien den Fremden, Zugereisten und Andersdenkenden
verdankt. Es ist geradezu eine Lust, Kulturnation zu sein,
wenn Träume in Erfüllung gehen.
Und weil Österreich,
seit Peymanns Weggang und durch Dr. Haiders Segen für
Blau-Schwarz, den wahren Künstler
wieder achten darf, hat auch der Begriff Staatskünstler
einen neuen Sinn erhalten. In der „Wenderepublik Österreich“ ist
dieses Wort nun kein Schimpfwort mehr, es ist sozusagen reingewaschen
und geadelt durch Dr. Haider. höchstselbst. Sein Talent
mit Worten zu jonglieren, diese durch allerlei Finessen und
Finten so lange zu drehen und zu wenden, auf daß immer
wieder ein neuer, blendend weißer oder auch nur g’spaßiger
Sinn herauskommt, das ist eine hohe Kunst, es ist buchstäblich
Staatskunst. Dieser Dr. Haider. ist ein Spitzenseiltänzer über
jedem politischen Abgrund, ein Rastelli im Verschwinden-
und Erscheinenlassen der Verantwortung. In diesem Fach ist
er Weltmeister. Kein kleiner Chargenspieler also, sondern
im wahrsten Sinne des Wortes eine absolute „Rampensau“,
wie es im Theaterjargon heißt. Er läßt keine
Pointe aus, die auf Kosten anderer geht, selbst die mieseste
nicht. Seine Maske ist das Grinsen, die Schadenfreude seine
Energie. Dr. Haider. hat so den Staat zu seiner Bühne
gemacht, er ist tatsächlich der einzige Staatskünstler Österreichs.
Jedenfalls solange wie Menschen seiner Staatskunst applaudieren
werden. Aber das ist eigentlich ein ganz anderer Traum. Und
vielleicht wird sich Grillparzers Spruch - Österreich
sei „eine kleine Welt, in der die große ihre
Probe hält“ - einmal nicht als Alptraum bewahrheiten.
Vielleicht.
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GRABREDE FÜR GERT VOSS
Wiener Zentralfriedhof, 4. Sept. 2014
O hätten wir seine Stimme, um ihn zu preisen!
O hätten wir seinen Glanz, sein Strahlen und sein Staunen,
um ihn
zu feiern!
O hätten wir die Gewalt seines Lachens, die Schärfe
seines Zorns,
seinen Haß auf die Bequemlichkeit, die Feinheit seiner
Empfindung,
die Ungeduld seines Herzens und seine göttliche Empörung!
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O hätten wir seinen Durst nach Wissen, seine Abenteuerlust
im Ausprobieren, seine Sehnsucht nach Genauigkeit, seine
Kunst der
Erregung vor und die glückliche Gelassenheit nach einem
gigantischen Auftritt!
O hätten wir – um ihn zu verstehen – die
Leidenschaft seines
Spiels, ja, hätten wir doch seinen Enthusiamus, den
Bühnenturm
immer wieder zum Sternenhimmel zu machen.
Ach, hätten wir nur ein wenig von dem, was er alles
hatte und konnte,
dann wäre diese Stunde hier mit Herrlichkeit geschmückt,
denn unsere
Klage würde sich zum magischen Totenfest verwandeln.
Und über allem
läge Zauber!
O seine Stimme! Daß sie doch unter uns erklänge
und uns erneut
beschenkte – so, wie es über Jahrzehnte geschah,
da wir Gerts Stimm
hörten – und sahen! Wer nämlich genau hören
konnte, der vermochte
auch zu sehen, wie seine Stimme die Zeichen der Wahrheit
an die
Wand schrieb!
Was Hofmannsthal einst an Josef Kainz rühmte – das
darf, ja muß
nach über 100 Jahren heute hier an einem Ort, an dem
viele
Geistesheroen versammelt sind, erneut verkündet werden,
gerühmt
an Gert Voss.
Er war der Bote aller Boten, er war ein Unverwandelter in
all seinen
Verwandlungen, seine Klarheit bezauberte, sein Schweigen
war
beredt, seine Rede glich einem Wasserfall, der uns mitriß,
seine
Einfachheit rührte, da sie ohne Gefallsucht war, sein
Atem beseelte
erdachte Geschöpfe, sein Körper glühte durch
das Dichterwort, seine
Augen erzählten das Leben. Er konnte fliegen, wir können
es nicht.
Er bedurfte keiner Maske, seine Masken waren Gesichter und
seine
Gesichter waren Gesichte! So war er selbst ein Dichter in
seinem Spiel!
Von weit her kam er und immer war er unterwegs. Familiär
seßhaft und
doch stets auf dem Sprung hinaus in das Reich der Poesie
und zuletzt
auch der Musik.
Das ferne Reich der Mitte war sein Ursprung. Er hat tatsächlich
seine
Kindheit in die Tasche gesteckt und weitergespielt. Niederlagen
haben
ihn nicht beirrt. Ja, es kann schon sein, daß er insgeheim
mit Xi Shen,
dem chinesischen Theatergott, verbündet war, der über
Blitz und
Donner herrscht und das Leben wie ein Spiel nimmt. Dieser
Gott gilt
als gefährlich. Und Gert war auch gefährlich, weil
er sich mit jeder
Rolle selbst in Gefahr brachte. Er begab sich immer in Gefahr,
weil ihm
das Theater heilig war.
Sein Leben nannte er eine Theaterreise. Er erforschte das
Bernhard-Land,
er durchmaß den Shakespeare-Kontinent, er erklomm die
Gipfel der
der Komik und scheute keinen steinigen Weg.
Ursula, seine Frau, ist auf allen Wegen zu jeder Stunde
mitgereist und hat dieses gemeinsame Leben auf die schönste
Weise
aufgeschrieben: ein Reiseführer zu allen Schatzinseln
der Phantasie.
Nun ist Gert Voss - vollendet unvollendet – in seiner
Reise endgültig zu Hause, wie es in dem Motto zu seinem
Buch
beschworen ist. Und wir, die wir hier zusammengekommen sind,
wir sind ein Teil dieser wunderbaren, wundersamen, sagenhaften
Lebensreise.
Dafür gebührt Dir unser Dank, mein lieber Gert!
„Reise leicht, nimm nichts, sagen die Weisen“,
schrieb Dein Freund George Tabori in einem seiner Gedichte.
Ja, reise leicht!
„Ruhige See, günstige Winde und volle Segel“ prophezeite
Dir
einmal Dein Prospero …
Wir aber wissen, Du bist nun ein funkelnder Stern, wir sehen
Dich, wenn es dunkel ist!
Wir müssen nur aufschauen!
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SALZBURG IST EXTERRITORIAL
Eröffnungsrede zum Thomas-Bernhard-Symposion der
Salzburger Festspiele 2016
„Salzburg ist exterritorial“, sagte Thomas Bernhard.
Und er sagte es kategorisch, also so, als ob er jeden Einwand,
auch seine eigenen Selbstzweifel, von vorneherein zurückweisen
würde. Bernhard traf diese überraschende Feststellung
Jänner 1986 in einem Gespräch im Café Imperial
in Wien. Es war ein Gespräch zwischen ihm, Claus Peymann
und mir. Es ging um RITTER, DENE, VOSS. Thomas Bernhard saß in
einer Falle, in einer selbstgestellten Falle.
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Als spontane
Reaktion auf das törichte, skandalöse Verbot seines
Romans HOLZFÄLLEN wollte Bernhard in Zukunft überhaupt
keine Aufführungen seiner Theaterstücke in Österreich
mehr zulassen. Natürlich feixten seine Gegner schadenfroh: Ätsch – jetzt
kann der Peymann keinen Bernhard an der Burg spielen! Tatsächlich
steckte Peymann in einem Dilemma, aber auch Bernhard. Peymann
bereitete die erste Spielzeit seiner Direktion am Burgtheater
vor und Bernhards neues Stück RITTER, DENE, VOSS harrte
der Uraufführung. Es irgendwo in Deutschland zu inszenieren – Ivan
Nagel lockte bereits nach Stuttgart -, war für Peymann
undenkbar, zumal Kirsten Dene und Gert Voss künftig zum
Ensemble des Burgtheaters gehörten. Es war Bernhard selbst,
der den Ausweg fand und mit einem genialen Schachzug sein NEIN
zu Österreich in ein JA zu Salzburg verwandelte. Zu Salzburg!
Trotz seines höchst widersprüchlichen Verhältnisses
zu dieser Stadt. Mit der Formel „Salzburg ist exterritorial“ suspendierte
er sein Verdikt. Eine Kooperation Salzburger Festspiele mit
dem Burgtheater war ihm jene Brücke, die zu begehen möglich
ist. Die Premiere ist exterritorial, dann sind weitere Vorstellungen
in Wien nicht mehr unmöglich. Und so kam es auch.
Ein
Loblied auf die Festspiele
Deswegen möchte ich ein Loblied auf die Salzburger Festspiele singen.
Kaum war Bernhards Vorschlag gemacht, mußte ich auch schon, von Robert
Jungbluth vermittelt, mit dem Präsidenten der Festspiele Albert Moser
telefonieren, um ihm unseren Vorschlag zu erläutern. Instinktiv sagte
ich am Telefon ganz einfach, aber mehrfach: „RITTER, DENE, VOSS ist so
gut wie Schnitzler, das ist ein Arthur Schnitzler von heute“. Mehr bedurfte
es nicht. Obwohl die Festspiele, wie üblich, ihr Festspielprogramm für
86 längst veröffentlicht hatten, ermöglichten sie kurzfristig
eine Programmerweiterung. Einem Ondit zufolge auch mit huldvoller Zustimmung
des Herrn von Karajan. In Salzburg entstand also als Folge eines Wiener Caféhaus-Gesprächs
einer der schönsten Bernhard-Aufführungen. Die legendär gewordene
Peymann-Inszenierung, im grandiosen Bühnenraum von Karl-Ernst Herrmann,
spielten Ilse Ritter, Kirsten Dene und Gert Voss tatsächlich 19 Jahre
lang, in Salzburg, in Wien, in Berlin und auf vielen Gastspielen. Das Stück
hat sich übrigens längst von den realen Titelnamen gelöst und
wird – zu Recht – immer wieder auch von anderen Schauspielern gespielt.
Warum erzähle ich so detailliert?
Weil Bernhards Formel „Salzburg ist exterritorial“ sein
Verhältnis zu den Salzburger Festspielen definiert. Die
Festspiele waren ihm seit seiner Jugend etwas Vertrautes, etwas
Besonderes, etwas Außerordentliches, vielleicht auch
geschmähter und geliebter Sehnsuchtsort, vor allem waren
sie der musikalische Maßstab. Jene Dirigenten, die er
in seinen Theaterstücken oder in seiner Prosa als Heilige
der Musik beschwört – es sind Dirigenten der Salzburger
Festspiele. Außerdem beschreibt meine kleine Geschichte
die Ambivalenz von Thomas Bernhard. So wie er seine Existenz „innig
lieben und gleichzeitig so entsetzlich haßen mußte“ – wie
er in seinem autobiografischen Buch „Die Kälte“ konstatiert – so
konnte er ein apodiktisches Nein im wahrsten Sinne des Wortes
augenblicklich in ein produktives Ja verwandeln.
Begegnung mit
Bernhard
Bevor ich Bernhard 1974 selbst kennen gelernt habe, anläßlich der
Uraufführung der JAGDGESELLSCHAFT in Wien, Peymanns erste Inszenierung
am Burgtheater übrigens, hatte ich von ihm persönlich kein Bild.
Ich hatte bis dahin neben EIN FEST FÜR BORIS auch seine Prosa gelesen – FROST,
KALKWERK, VERSTÖRUNG - und die in jeder Hinsicht denkwürdige Premiere
und einzige Vorstellung von DER IGNORANT UND DER WAHNSINNIGE in Salzburg gesehen,
nichtsahnenden von Querelen und Intrigen hinter den Kulissen, mit denen Bernhard
und Peymann konfrontiert waren. (Damals kannten Peymann und ich uns noch nicht.)
Das berühmt-berüchtigt gewordene Notlicht, das im Salzburger Landestheater
penetrant hell leuchtet und damit eine völlige Finsternis – so Bernhards
Regieanweisung – unmöglich macht, wurde nicht, wie von der Festspielleitung
versprochen, in der Premiere für zwei Minuten abgeschaltet. Die Folge
war: alle weiteren Vorstellungen wurden abgesagt. Thomas Bernhards lapidare
Feststellung: „Eine Gesellschaft, die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt,
kommt ohne mein Schauspiel aus“ ist wie eine hellsichtige Prophezeiung
künftiger Konflikte, denn Taktieren war Bernhards und Peymanns Sache nie.
Von Bernhards Texten habe ich mir ein Bild gemacht, nicht
vom Autor. Die Texte selbst müssen ja zunächst für
sich sprechen, und die hatten eine Musikalität und eine
eigenartige Form, die mich sofort interessiert hat, die mich
sofort in Bann gezogen hat. Die Leidenschaft des Erzählens,
die Energie der Sprache, ihr zwingender Rhythmus – all
das ein neuer Ton für Themen wie Krankheit, Verfall und
Zerstörung.
Als ich Thomas Bernhard nach der Wiener Premiere von DIE JAGDGESELLSCHAFT
begegnet bin, war ich gleich eingenommen von ihm, von seiner
direkten, sympathisch unkomplizierten Art. Vollkommen uneitel
und offen, wie er mir begegnete. Und keine Spur von jener Düsterheit,
die ihm so oft angedichtet wird.
Unsere Begegnungen verbanden sich immer mit Uraufführungen,
zunächst in Stuttgart, dann in Bochum, bei den Salzburger
Festspielen und schließlich in Wien. 1976 verschaffte
uns unser Plan, in Stuttgart Goethes „Faust I und II“ zu
spielen, einen mehrtägigen Ausflug zu Thomas Bernhard.
Es war wie eine Landpartie. Claus Peymann, Achim Freyer und
ich hatten nämlich, auf Bernhards Einladung hin, in seinem
Haus auf dem Grasberg bei Reindlmühl, in der Krucka, Quartier
bezogen, einem kleinen, sehr einfachen Bauernhaus, nur zu Fuß erreichbar.
Ich heizte den Kachelofen, was nicht unwichtig war für
unser Quellenstudium in einem kalten Haus. Wir waren sozusagen
bei Bernhard zu „Faust“-Studien in Klausur gegangen.
Das war in puncto Goethe erhellend und gleichzeitig heiter,
nicht nur weil wir Bernhard oft trafen, sondern auch gesehen
haben, wie er sich in seiner Landschaft bewegte, eben wie einer,
der aus dieser Landschaft kommt und auch in dieser Landschaft,
bei aller Distanz, die er dazu auch hatte, zuhause war. Es
war für mich interessant zu erleben, wie er auf die natürlichste
Weise mit Menschen sprechen konnte. Und es sind bei persönlichen
Begegnung oft die scheinbar kleinen Momente, die sich besonders
einprägen, z. B. Bernhards abruptes Anhalten während
einer Autofahrt, um eine Bäuerin auf dem Feld zu begrüßen.
Oder beiläufig die spontane dichterische Verdichtung,
denn als Peymann ihm beim Abschied auf dem Perron des Bahnhofs
Attnang/Puchheim von unseren künftigen Stuttgarter „Faust“-Plänen
erzählte, also das auf der Krucka bei stundenlanger Lektüre
der 12111 Verse entwickelte Spielkonzept skizzierte, brachte
er unsere Ideen spontan auf die schlagende Formel als Titel
der Aufführung: „Von Heinrich Faust bis Henry Ford“.
Während der Probenzeit zur Uraufführung von DER THEATERMACHER
in Salzburg 1985 und auch ein Jahr später bei RITTER,
DENE, VOSS erlebte ich Thomas Bernhard erneut in seiner Hemisphäre.
Und ich erlebte, wie Menschen ihn verehrten, als sei er ein
russischer Großfürst. Auch heute noch, wenn ich
in Ohlsdorf im Thomas-Bernhard-Haus oder im Gmundner Stadttheater
mit Bernhard-Lesungen auftrete, spüre ich, wie stark Thomas
Bernhard bei den Menschen dieser Landschaft präsent ist,
immer noch.
Auf nach Wien!
1986 war ich wohl der Einzige der sogenannten Bochumer Bande,
die aufbrach, die Wiener das Fürchten zu lehren, der
ahnte, was auf uns zukommen würde,
ich kannte ja die Wiener Theater- und speziell die Burgtheatergeschichte. Über
kein Theater der Welt ist so viel geschrieben worden und über kein Theater
der Welt wird so viel erzählt und gelästert wie über die Burg.
Deswegen hatte ich, als Wiener nahm ich mir dieses Recht heraus, eine Scheu,
an die Burg zu gehen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß es
gut gehen würde. Es ist dann – o Wunder - gut gegangen, aber welche
Turbulenzen, welche Kämpfe, welche Glaubenskriege, welche Schlammschlachten,
welche Anfeindungen…,aber auch welch enthusiasmierende Zuneigung und
Begeisterung vieler Zuschauer. Und welche Begeisterung für Thomas Bernhard.
Unser Beginn am 1. September 86 war schon ein Paukenschlag. „Was hier
in dieser muffigen Atmosphäre, als ob ich es geahnt hätte…“ – mit
diesem Stoßseufzer des Theatermachers Bruscon (von Traugott Buhre ideal
gespielt) bei seinen ersten Auftritt wurde im Grunde die „Weltkomödie Österreich“,
um einen Begriff Thomas Bernhards zu zitieren, eröffnet. Das Publikum
hatte verstanden. Für die einen war der Dichter der leibhaftige Gottseibeiuns,
für andere wiederum der wahre Repräsentant österreichischer
Literatur, der endlich auf die Bühne des Nationaltheaters gehörte. „Wenn
ich RITTER, DENE, VOSS nicht wenigstens einmal im Monat sehen kann, dann geht
es mir schlecht“, bekannte flehend ein notorischer Wiener Theatergänger,
stand dieses Stück einmal nicht auf dem Spielplan des Akademietheaters.
Thomas Bernhard nahm großen Anteil an unserem Start am Burgtheater. Nicht
nur, weil wir dort seine Stücke spielen würden, sondern er interessierte
sich dafür, wie das alles weitergehen würde, weil er immer mit dem
Schlimmsten rechnete, nämlich damit, daß unsere Burgtheaterzeit
sehr schnell wieder zu Ende sein könnte. Wenn es um die Burg geht, können
die Wiener schnellen Prozeß machen. Das hat Tradition. Wie heißt
es doch im THEATERMACHER? „Das Gewesene, das fortwährende Gewesene…“ Dabei
wollte sich Bernhard um keinen Preis kulturpolitisch vereinnahmen lassen – auf
seine empörte Forderung hin sagte Peymann das Gastspiel des Burgtheaters
mit THEATERMACHER bei der sogenannten Europalia, einem Österreich gewidmeten
Festival in Brüssel, kurzfristig ab. Bernhard war jede „Selbstdarstellung
als Selbstaufblähung des mir in allem und jedem widerwärtigen gegenwärtigen österreichischen
Staats“(so er) verhaßt.
„
Ich darf mich in Brüssel nicht von den österreichischen Ministerialbeamten
als Kulturpolizisten mißbrauchen und exekutieren lassen“, schrieb
Bernhard ultimativ an Peymann. Aber in den entscheidenden Momenten hat
Bernhard uns sehr unterstützt. Er machte Claus Peymann immer wieder
Mut, den Kampf um die Burg nicht aufzugeben. Schon im Voraus wollte er
ein mögliches
Scheitern quasi durch Beschwörung bannen, jedenfalls schien es mir
so, als ich die höchst sarkastischen Passagen über die Institution
Burgtheater als eine tödliche „Kunstmühle“, in der
der jeweilige Burgtheaterdirektor zermahlen wird, in seinem 1984 erschienenem
Roman HOLZFÄLLEN
las. Es war schließlich nicht nur die Solidarität zu meinen
Kollegen, die meine instinktiven Vorbehalte gegen die Burg überwinden
half, es war auch der Wunsch, weiterhin an Thomas-Bernhard-Uraufführungen
mitarbeiten zu dürfen. Es war ja immer etwas Besonderes, auf seine
Stücke zu
warten und sie vorzubereiten. Vor allem war es dann die große Überraschung,
wie sich die Stücke im Spiel der Schauspieler auf der Bühne wunderbar
entfalteten. Ich weiß noch genau, wie ich Peymann einst in Stuttgart
vorgeschlagen habe, Bernhard möge doch das 3. Bild in dem Theaterstück
MINETTI überarbeiten, es müßte dialogischer sein usw. Peymann
wehrte ab und hatte Recht, die Szene erweist sich nämlich erst im
Spiel. Das Zusammenspiel zwischen dem monologisierenden alten Schauspieler
(Bernhard
Minetti) und dem schweigsamen jungen Mädchen (Therese Affolter) war
nicht nur überaus beredt, es war eine zarte, melancholische Liebesszene.
Es gibt eben „Redekünstler“ und es gibt „Schweigekünstler“ – so
heißt es treffend in dem in Salzburg uraufgeführten Theaterstück
AM ZIEL. Aus Reden und aus Schweigen entsteht Bernhards Dramatik.
HELDENPLATZ
Wie ein roter Faden in meiner Zusammenarbeit mit Claus Peymann,
die 1974 in Stuttgart begann, erscheint immer wieder Thomas
Bernhard. Elf Bernhard-Uraufführungen
in all den Jahren. Die Wiener Zeit ist mir natürlich besonders präsent.
Welche Burgtheaterdirektion hat im vergangenen Jahrhundert dreizehn Jahre lang
gedauert? Welche Direktion hat solche Zerreißproben und Anfeindungen überstanden?
Und ein Dichter im Mittelpunkt dieser Stürme. Thomas Bernhards HELDENPLATZ
- der größte Skandal und der größte Triumph. Allein die
hysterischen, aberwitzigen Begleitumstände und der Sieg eines Theaterstücks
gegen die geballte öffentliche Meinung sind schon eine Thomas-Bernhard-Komödie
für sich. Erst ein wochenlanges mediales und politisches Trommelfeuer,
um HELDENPLATZ zu verhindern und Bernhard samt Peymann abzuschießen.
Der Mechanismus war wie gehabt, aber diesmal wie in einem nationalen Wutanfall
auf die Spitze getrieben. Bekanntlich sind neue Theaterstücke bis zu einer
Buchveröffentlichung und bis zur Uraufführungspremiere urheberrechtlich
geschützt. Nur scherte das niemand. Journalisten verschafften sich illegal
den Stücktext, zitierten ebenso illegal und wahllos daraus und heizten
damit einerseits die Anti-Kampagne mächtig an. Andererseits wurden Bernhard
und Peymann der Skandalsucht bezichtigt. Es war eine Hetz, die bösartige
Formen annahm. Gab es in der Barockzeit in Wien das sogenannte Hetztheater,
in dem zur allgemeinen Volksbelustigung Tiere aufeinander gehetzt worden sind,
so sind es in der Neuzeit Leserbriefkanonaden, groteske Verdächtigungen
und anonyme Zuschriftenbombardements, die vom Boulevard, sprich „Kronenzeitung“,
entfacht werden, um zornige Volkesstimme zu suggerieren, die dann, bis auf
wenige Ausnahmen, von der politischen Klasse panikhaft aufgegriffen und verstärkt
wird. Für den Regisseur Peymann, der das Trommelfeuer auf den Direktor
Peymann abwehren mußte, und für die Schauspieler habe ich heute
noch Bewunderung, wie sie in dieser ohrenbetäubenden Kakophonie die Konzentration
für die Proben bewahrt haben, auch gegen Anfeindungen im eigenen Haus.
Wolfgang Gasser, er spielte die Rolle des Professor Schuster, stand unbeirrt
und unbeirrbar zur Botschaft des Stücks. Die plötzlich atemlose Aufmerksamkeit,
die er in der Premiere im 2. Akt dem Text verschaffte, bewirkte sein wahrhaftiges
Spiel, ein Spiel, das Bernhards Text beglaubigt hat. Thomas Bernhard sah in
Wolfgang Gasser buchstäblich einen Glücksfall. Die Premiere war in
der Tat wie ein Sturm, ein Sturm allerdings, der den Himmel wieder frei fegte.
Alle, die gegen HELDENPLATZ waren, verstummten, taten so, als ob nichts gewesen
wäre. Die von Thomas Bernhard so geschätzte NZZ meinte sogar ein
wenig später: „Heldenplatz erwies sich als keine Erregung“.
Grotesker und folgerichtiger hätte es nicht ausgehen können. Ganz
nach dem Motto von Karl Kraus: „In Österreich ist öfter schon
alles drunter und drüber und dennoch schließlich ins Burgtheater
gegangen.“ Von der Premiere gibt es einen kompletten Tonmitschnitt, einschließlich
des dreiviertelstündigen tumultuösen, schließlich jubelnden
Schlußbeifalls. Heute hört sich das an wie ein grandioses Kasperletheater,
damals ging es um Alles oder Nichts. Für Thomas Bernhard war es ein großer
Sieg. Leider war’s sein letzter Sieg. Und es war sein letzter öffentlicher
Auftritt, auf der Bühne des Burgtheaters den Beifall entgegennehmend.
Wir haben HELDENPLATZ 120 Mal an der Burg gespielt, und es war auch deswegen
ein beispielloser Erfolg, weil die politische Wirklichkeit Österreichs
mit ihren permanenten Skandalen Bernhards Stück immer wieder aufs Neue
bestätigt hat. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ein Blick
in die Zeitungen genügt. Für mich ist HELDENPLATZ eine der drei großen
politischen Komödien Österreichs: „Professor Bernhardi“ von
Schnitzler, „Herr Karl“ von Merz/Qualtinger und HELDENPLATZ. Eine
Komödie aber nicht nur für Österreich, das Stück ist mehrfach
in Paris inszeniert worden und unsere Gastspiele in Deutschland hatten immer
eine unmittelbar starke Wirkung. „Bei uns in Deutschland gibt es leider
keinen Autor, der so ein Stück schreiben kann, keinen, der unsere ganze
Misere mit dieser Wucht auf die Bühne bringt“, klagte ein Berliner
nach einer Aufführung beim Berliner Theatertreffen.
Immer wieder bin ich erstaunt über die anhaltende Wirkung
Thomas Bernhards, die ich beim Publikum beobachten kann. Es
geht mir selbst nicht anders. Lese ich seine Freundschaftsgeschichte
WITTGENSTEINS NEFFE, habe ich das Gefühl, das ist Thomas
Bernhard pur. Auch in der harten Abrechnung mit sich selbst: „Ich
bin kein guter Charakter, ich bin keine guter Mensch“.
Trete ich zusammen mit Peymann in den drei Dramoletten CLAUS
PEYMANN KAUFT SICH EINE HOSE UND GEHT MIT MIR ESSEN in Wien,
Berlin, Prag, Brüssel oder sonst wo auf, so habe ich das
Gefühl, das ist Thomas Bernhard pur. In diesen dramatischen
Miniaturen über Theaterwahnsinn und Theaternarren steckt
großes Theater, denn wie könnten sie sonst mit Erfolg
vor einem Publikum gespielt werden, das die realen Vorbilder
der Figuren gar nicht kennt, wie in Italien oder Frankreich
zum Beispiel.
Einfach kompliziert
Thomas Bernhard ist immer Komiker und Tragiker: ein Tragikomiker
oder ein Komiker, der sehr tragisch ist – so wie die größten Komiker oft traurige
oder melancholische Menschen sind. Deswegen sind seine Texte so einfachkompliziert.
Manche Literaturkritiker meinen, es gäbe bei Bernhard nur Schwarz-Weiß,
sie sehen nicht die Ambivalenz, die Realität und deren Kehrseite, das
Konkrete und zugleich die vielen Schichten dieser Texte. Bernhard war nie,
denke ich, an einer Logik der Fakten interessiert. Die Logik seines künstlerischen
Schaffens meint nicht die Oberfläche des Lebens, sie kehrt dessen dunklen
Seiten ans Tageslicht. Es gibt ein Gedicht von Samuel Beckett, das heißt
in der Übersetzung von Karl Krolow: „Bis zum Äußersten
gehn/dann wird Lachen entstehn“. Ist das nicht eine schöne Definition
von Bernhards schriftstellerischer Methode? Es liegt eine Kraft, eine Energie
in seinen Sätzen. Bei jeder Lesung entdecke ich neue, wichtige Nuancen
in der Musik des Textes. Deswegen sind die Lesungen im Ausdruck und Wirkung
jedes Mal anders. Das laute Lesen ist eine elementare Methode, Bernhards Dichtungen
genauer zu studieren, genauer zu erleben und so überraschende Entdeckungen
zu machen. Bernhards Prosa ist absolut gestisch, ist Rollenprosa. Wer einmal
Peter Fitz mit seinem grausam verzweifelten, auch gegen sich selbst wütenden
und zugleich umwerfend komischen Riesenmonolog in BETON erlebt hat, versteht,
was ich meine. Bernhards Romane werden neuerdings immer wieder auf die Bühne
gebracht, die Energie seiner Sprache verlockt dazu und die scharfe Konstellation
der Figuren, aber wenn die Struktur seiner Texte leichtfertig verändert
wird, richtet sich das gegen Bernhard, denn seine Prosa ist eine Art immerwährender
Monolog. Und doch zielen paradoxerweise seine Texte auf ein Gegenüber.
In der Prosa, in den Dramen. Seine Theaterstücke sind tatsächlich
Theatertexte, was ja nicht von jedem Theaterstück gesagt werden kann.
Bernhards „Textflächen“ sind sehr konkret, sind emotional
erlebbar, sind unmittelbar zu spielen.
Über seine schriftstellerische Arbeit hat sich Bernhard kaum geäußert, über
seine Stücke auch nichts vorweg ausgeplaudert, manchmal hat er sogar bewußt
falsche Fährten gelegt. War das Stück fertig, dann erst war es für
ihn abgeschlossen und durfte gelesen werden. Auch wollte Bernhard jedes Stück
so schnell wie möglich aufgeführt sehen, damit sein Kopf wieder frei
war für die nächste Arbeit. Zu welchen Zornesausbrüchen es bei
ihm kommen konnte, wenn am Theater die üblichen Verzögerungen eintraten,
davon künden die Briefe an seinen Verleger Siegfried Unseld oder an Peymann.
Im Grunde schien ihm schon eine einzige Vorstellung zu genügen, wenn sie
nur gut war. Für Stuttgart machte er uns einmal den Vorschlag, ein Silvester-Stück
zu schreiben. Das ganze Ensemble sollte darin spielen, natürlich die besten
Schauspieler, Uraufführung am 31. Dezember und tatsächlich nur eine
einzige Vorstellung, eben die Silvestervorstellung, Titel des Stücks: „Das
böse Omen“. Wir hatten damals das Stück sogar angekündigt,
aber geschrieben hat es Bernhard nicht.
Das Geheimnis eines Menschen ist selten zu ergründen.
Das Geheimnis von Thomas Bernhard ist allerdings aufgeschrieben
in seinem Gesamtwerk.
Bernhard überall
Um Bernhard zu ergründen, müsste man sein Gesamtwerk
gelesen haben, aber dann hätte man ihn, so vermute ich,
noch immer nicht ergründet. Der Mensch Thomas Bernhard
ist naturgemäß auch ein anderer als der Schriftsteller
Thomas Bernhard. Und so ist es eher kurios, wenn nicht lächerlich,
wie in letzter Zeit immer wieder – auch von deutschsprachigen
Schriftstellerkollegen - versucht wird, Thomas Bernhard zu „demaskieren“ oder
sein Privatleben bis ins Intimste auszuforschen, um irgendwelche
Aufschlüsse oder Widersprüche zu seinem Werk zu finden.
Andererseits ist Bernhards Werk für fremdsprachige Schriftsteller
Stimulans und Herausforderung.
Der österreichische Kabarettist Werner Schneyder hat
unmittelbar nach Thomas Bernhards Tod lauthals verkündet: „In
zehn Jahren redet niemand mehr von ihm“. Schon einige
Jahre später mußte er prolongieren: „Nach
zwanzig Jahren redet niemand mehr von Bernhard“. Herr
Schneyder wird sich wohl öfters revidieren müssen.
Die Wirkung Thomas Bernhard ist nämlich ungebrochen. Er
wird immer wieder neu gelesen, neu gespielt und neu durchdacht.
Studenten aus Frankreich, aus England, aus Korea befragen mich
für ihre Doktorarbeiten über Thomas Bernhard; ein Übersetzer
aus Ägypten überträgt den THEATERMACHER ins
Arabische und will wissen, was eine Jausenstation ist oder
der Blutwursttag bedeutet. Die Wirkung von Bernhard ist tatsächlich
weltweit und sie hält an, auch deswegen, weil Menschen
sich immer noch und immer wieder mit seinem Werk beschäftigen.
Eine Lesung von WITTGENSTEINS NEFFE an der Pariser Sorbonne
ist überfüllt von Studenten, die das Werk genau kennen,
an ihren Reaktionen ist es zu merken. In der Berliner S-Bahn
sitzt ein junger Fahrgast, der ein Buch von Thomas Bernhard
liest und fröhlich in sich hinein kichert. In der New
Yorker „Neuen Galerie“ am Central Park höre
ich beiläufig eine Unterhaltung von Galeriebesuchern über
Thomas Bernhard und in einem Supermarkt in der Bretagne liegt
an der Kasse ein Buch über Thomas Bernhard aus. Überall
auf der Welt wird Bernhard gespielt, auch in Peking oder in
Montevideo. Nach seinem Tod gab es ja Leute, die meinten: „ Jetzt
hat es sich endlich aufgehört mit Bernhard!“. Das
Gegenteil ist der Fall, denn viele jüngere Theaterleute
entdecken Bernhard neu, vor allem die Schauspieler. Das ist
ja überhaupt das Schönste in der Wirkung, daß die
Schauspieler von Anbeginn an begriffen haben, welch besonderer
Schauspieler-Autor Bernhard ist. Die Schauspieler haben Lust,
seine Stücke zu spielen, sie haben geradezu eine Gier
nach seiner Sprache. Bernhards Blick und Begeisterung für
Schauspieler inspirierte ihn immer wieder zu Stücken für
Schauspieler, für Minetti, für Marianne Hoppe, für
Hugo Lindinger, für Bruno Ganz, für Ilse Ritter,
für Kirsten Dene, für Gert Voss. RITTER, DENE, VOSS
entstand nachdem er an einem Wochenende in Köln Ilse Ritter
in AM ZIEL und in Bochum Kirsten Dene und Gert Voss in HERMANNSSCHLACHT
gesehen hatte. Intelligente Schauspieler lautet Bernhards Widmung
an die Drei. Der einzigartigen Edith Heerdegen, die in DER
WELTVERBESSERER die schweigsame Frau höchst beredt spielte,
wollte Bernhard aus Dankbarkeit ein Denkmal im Stuttgarter
Schloßgarten setzen.
Rollen für Schauspieler
Bernhard liebte Schauspieler und er hatte ein untrügliches
Theatergespür, er war, fast schon im goetheschen Sinn, „ein
alter Praticus“. Als der wunderbare Schauspieler Hugo
Lindinger starb – für ihn schrieb Bernhard die Rolle
des Wirts in DER THEATERMACHER – wünschte sich Bernhard
ausdrücklich eine Besetzung der Rolle nicht mit einem ähnlichen
Schauspieler, sondern eine ganz konträrer Besetzung, er
verlangte geradezu Josef Bierbichler für den Wirt. Ich
konnte Biebichler überzeugen und es zeigte sich einmal
mehr, daß ein andere Schauspieler einer Rolle eine völlig
andere, neue Charakteristik zu geben vermag. Ja, Bernhard liebte
Schauspieler und es kann schon sein, daß er insgeheim
einen Guckkasten in seinem Kopf gehabt hat, der von Schauspielern
bevölkert war. Ebenso von Schauplätzen, von Orten,
die ihn faszinierten.
Das Geheimnis der Orte
Ob es der Pavillon Hermann auf
der Baumgartnerhöhe, das
Café Ambassador, die Singerstraße oder Gentzgasse,
ob es Schloß Wolfsegg mit seiner geheimnisvollen Kindervilla,
der Friedhof auf Palma oder der Döblinger Friedhof, das
Bauernhaus mit der großväterlichen Wohnung in Ettendorf,
das Sterbezimmer des Salzburger Landeskrankenhauses, die Operngarderobe,
das Kalkwerk „Unterm Stein“, der Gasthof Holzapfel
, Bernhards Vierkanthof in Obernathal oder schließlich
der Heldenplatz ist, es gibt viele reale Orte in seinen Erzählungen,
Romanen und Theaterstücken, die eine Autor wie Leser inspirierende
Wirkung haben. Bernhard machte sehr oft seine Fiktionen an
realen Orten dingfest. Und gerade diese Orte entfalten eine
eigentümliche Magie: Ein Gefühl der Bedrohung, des
Geborgenseins, der Verheißung, der Katastrophe oder der
Faszination. Immer haben diese Orte auch eine theatralische
Wirkung, auch wenn sie eng, schmutzig, dunkel, tödlich
sind. Und wenn sich die seltene Möglichkeit ergibt, in
eine dieser Bernhardschen Fiktionen ganz real einzutauchen,
ist man unversehens aufgehoben in einer eigentümlichen
Konstellation, man gibt sich drein und erfindet sie zugleich
neu. So erging es mir als Museumsdiener Irrsigler. In einem
Saal des Kunsthistorischen Museums, den Thomas Bernhard den
Bordone-Saal nennt, vor Tintorettos „Weißbärtigen
Mann“ seine Roman-Komödie mit dem hintersinnigen
Titel ALTE MEISTER zu spielen, lehrte mich, wie sehr die von
Bernhard gewählten Orte und Gegenstände absolut kein
austauschbares Dekor sind, sondern sich untrennbar mit seinen
Figurenkonstellationen, die doch Lebenskonstellationen sind,
verbinden. Im Angesicht des originalen „Weißbärtigen
Mannes“ agieren zu dürfen, ließ uns, also
Martin Schwab, Erwin Steinhauer und mich, sehr direkt erleben,
welche Kraft allein von einem Bild ausgehen kann, einem Bild,
von dessen Geheimnis der Leser oder Zuschauer durch die Figuren
Reger, Atzbacher und Irrsigler permanent etwas Neues erfährt.
Es ist wie ein Blick durch ein Gesicht hindurch auf ein ganzes
Leben. Sei es nun das rätselhafte, ganz aus dem Schwarzen
kommende Männerporträt Tintorettos, sei es das im
wahrsten Sinne erbarmungswürdige Frauengesicht der Anna
Härdtl in BETON – diese Gesichter geben Bernhards
Texten eine Perspektive, der sich der Leser oder Zuschauer
nicht entziehen kann. Es entstehen Durchblicke in ein tiefes
Bild, in das Leben Die immer wieder gerühmte musikalische
Form Bernhards ist ja kein atmosphärisches Gewaber, sondern
durch und durch Konstruktion. Freilich sind es keine abstrakten
Thesen, welche die Konstruktion ausmachen, sondern Gesichter,
Gegenstände, Orte. Damit zu spielen und sich selbst dabei
nicht zu schonen, das ist Bernhards Kunst. Oft waren es Begegnungen,
Ereignisse oder beiläufige Zeitungsnotizen, die zum Anstoß für
eine Erzählung oder ein Theaterstück wurden. Aber
auch ein von ihm dezidiert ausgesprochenes Nein konnte bei
ihm etwas bewirken. Als Peymann in Bochum mit Bernhard Minetti
und Traugott Buhre die Uraufführung von DER SCHEIN TRÜGT
inszenierte, rief ich Thomas Bernhard an und bat ihn, um einen
Beitrag für das Programmbuch. Nein, er könne nichts
dafür schreiben, nein, er habe auch keinen unveröffentlichten
Text dafür, nein, er habe keine besonderen Wünsche,
nein, nein, ich solle doch so machen, wie ich es mir denke…das
war seine freundlich bestimmte Antwort. Ein paar Tage später
erhielt ich überraschend einen Expressbrief aus Ohlsdorf,
in dem Bernhard ganz lakonisch schrieb: „Ihr Telefonat
hat diese Skizze geboren. Indem ich zu Ihnen nein sagte, hatte
ich zu mir ja gesagt.“ Das ist Thomas Bernhard in nuce.
Seinem Brief lag ein kurzer Prosatext bei, geschrieben auf
jener Schreibmaschine, die mir von seinen Theatermanuskripten
bekannt war. Auch über diese Erzählung läßt
sich sagen: Thomas Bernhard in nuce. Dieser „Reisebericht
an einen einstigen Freund“ – so der Untertitel – erzählt
von einem Traum, in dem der Träumende wiederum im Traum
erlebt, wie „dieses ganze widerwärtige, schließlich
nurmehr noch bestialisch stinkende Österreich vor meinen
Augen in Flammen aufgegangen ist“. Der Träumende
wacht in Rotterdam auf. „Zu meinem großen Glück
in Rotterdam, in jener Stadt, die mir aus allen Gründen
von allen Städten die nächste und also die liebste
ist, wie Sie wissen“, heißt es am Ende dieser Erzählung,
die den Titel IN FLAMMEN AUFGEGANGEN trägt und Bernhards
HELDENPLATZ-Thematik vorwegnimmt. Aber als das Schauspielhaus
Bochum mit DER SCHEIN TRÜGT, also mit der Inszenierung
des designierten Burgtheaterdirektors Peymann, in Wien gastierte,
nahm niemand von diesem Prosatext Notiz. (Weil Programmbücher
einfach nicht gelesen werden?) Bernhard wußte durchaus
um die Vergeblichkeit seines Schreibens - „Das ganze
Leben ist ja ein einziger Protest, aber es nützt gar nichts…Was
die Schriftsteller schreiben, ist ja nichts gegen die Wirklichkeit…die
Wirklichkeit ist so schlimm, daß sie nicht beschrieben
werden kann…“-, dennoch schrieb er weiter, es war
seine Methode, die Welt auszuhalten. Mehr noch: Es war seine
wahre Lebenslust. Eine Lebenslust freilich, in der „Zorn
und Verzweiflung meine einzigen Antriebe sind, und ich habe
das Glück, in Österreich den idealen Ort gefunden
zu haben.“ Der Roman AUSLÖSCHUNG. EIN ZERFALL und
HELDENPLATZ spielen an und mit diesem „idealen Ort“.
Es sind menetekelhafte Werke, die wie eine Summe wirken und
doch kein Schlußpunkt sind. Textentwürfe zeugen
davon. „Matterhorn“, „Karakorum“ oder „Neufundland“ sind
die Titel zu einem neuen Roman; „Die Schwerhörigen“ ist
der Titel zu einer Tragödie, die naturgemäß als
Komödie sich hätte entpuppen können, wenn sie
von Bernhard vollendet worden wäre. „Die menschlichen
Anstrengungen enden immer mit einer Katastrophe…“,
sagt darin ausgerechnet ein Brückenbauingenieur, der „ über
Brücken redet“ zu einem Privatphilosophen, der „über
alles redet“.
Thomas Bernhards philosophisches Lachprogramm, wie er es einmal
nannte, war ja im Grunde schon in seinem ersten, 1952 veröffentlichten
Gedicht angekündigt. Thomas Bernhards Gedicht beginnt
mit den Zeilen:
„
Vieltausendmal derselbe Blick durchs Fenster in mein Weltenstück…“
(Eröffnungsrede zum Thomas-Bernhard-Symposion der
Salzburger Festspiele 2016)
Text schliessen
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Thomas Bernhard (r) und Hermann Beil (l) in der Hauptprobe zu "Heldenplatz",
2. Nov. 1988 Burgtheater. |

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