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„FOLGEN SIE DIESER FRAU…“
LAUDATIO AUF ANDREA BRETH
Akademie der Künste Berlin, 5. Sept. 2021

„Folgen Sie dieser Frau“, sagte einst Joana Maria Gorvin spontan zu Andrea Clausen, nachdem sie Andrea Breths Inszenierung von Ibsens „Gespenster“ gesehen hatte. Und die junge Schauspielerin – sie war in „Gespenster“ die Regine Engstrand und hat zuvor in Julien Greens „Süden“ mitgespielt - hat diesen Rat beherzigt und seitdem viele Rollen in Aufführungen von Andrea Breth gespielt – in Bochum am Schauspielhaus, in Berlin an der Schaubühne, deren künstlerische Leiterin Andrea Breth für einige Jahre war, und in Wien am Burgtheater.

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Mehr noch: Den Rat von Frau Gorvin machten sich viele Schauspielerinnen und Schauspieler zu eigen – sie alle zusammen ergaben und ergeben schon über viele Jahre hin insgeheim ein illustres, der Regisseurin verbundenes Ensemble, das in seiner künstlerischen Individualität, Energie und Beständigkeit seinesgleichen sucht.
Warum folgten und folgen Andrea Clausen, Johanna Wokalek, Corinna Kirchhoff, Roland Koch, August Diehl, Wolfgang Michael, Imogen Kogge, Libgart Schwarz, Angela Schmid, Jens Harzer, Peter Simonischek, Elisabeth Orth, Sven-Eric Bechtolf, Traugott Buhre, Nicole Heesters, Rolf Schult, Hans-Christian Rudolph, Johann-Adam Oest, Thomas Thieme, Ulrich Matthes, Markus Meyer, Sabine Haupt, Branko Samarovski, Hans-Michael Rehberg, Katharina Tüschen, Bernd Birkhahn, Bärbel Bolle, Cornelius Obonya, Michael König, Udo Samel, Christoph Luser, Marie Burchard, Philipp Hauß, Oliver Stokowski, Nicholas Ofczarek… und immer wieder der Sänger Georg Nigl: warum folgten und folgen sie alle dieser Frau? Einer Regisseurin, die in ihrer Arbeit größte Konzentration, Offenheit und leidenschaftliche Hingabe einfordert, auch mit Strenge und mit Unbedingtheit. Und da sie stets mehr als nur Theater will, verlieh ihr Klaus Völker den treffenden Titel: Die Unbedingte.
Es sind gerade die eigenständigen, selbstbewußten Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich, weil ihnen nettes Wohlfühltheater nicht genügt, weil sie kein Gefälligkeitstheater wollen, freiwillig der permanenten Herausforderung, ja sogar wahnwitzigen Überforderung durch diese unbedingte Frau hingeben. Kann schon sein auch mit Lust von Zeit zu Zeit…
Dieses herrlich widerspruchsvolle Ensemble setzt sich immer wieder der „teuflischen Intelligenz und Intuition“ von Andrea Breth aus. Solch besonders gefährliche und besonders kostbare Eigenschaften hatte der große, französische Schriftsteller Julien Green der Regisseurin und Wiederentdeckerin seines Schauspiels „Süden“ staunend und bewundernd attestiert. In dieser Bochumer und auch zum Berliner Theatertreffen gezeigten Aufführung offenbarte sich ein traumwandlerisches Gespür für Stimmungen aller Valeurs, für untergründige Gefahren und Ahnungen.
Beim Erleben ihrer Inszenierungen habe ich immer das Gefühl, Andrea Breth hat vielleicht doch das zweite Gesicht, denn sie weiß mehr als der Autor, weil sie den Autor absolut ernst nimmt, demütig ernst – und dadurch zu den schönsten, erhellenden Entdeckungen kommt. Oder zur bannenden Darstellung, deren Gewalt geradezu körperlich spürbar wird. Spürbar nicht als eine selbstherrliche Geste, sondern weil es der Inhalt des Werkes ist, der zur Erscheinung kommt. Es war dieser Tage erneut erlebbar, sogar digital unmittelbar ergreifend erlebbar im Stream aus Brüssel, aus dem Théâtre Royal de la Monnaie: mit Benjamin Brittens Oper „The Turn of the Screw“, die auf einer Erzählung von Henry James basiert. Das Kinderpaar, die Sängerinnen und Sänger, das kammermusikalisch besetzte Orchester, der kulissenhaft beweglich schillernde Bühnenraum von Raimund Orfeo Voigt mit seinen Lichtstimmungen und Farben verbinden sich ingeniös zu einem schier atemlos machenden Vorgang voller Geheimnisse. Die Faszination liegt in der bestürzenden Erkenntnis: Das Geheimnis selbst und dessen Unerklärbarkeit sind der Inhalt und die Wahrheit dieser Oper. Diese Wahrheit gilt es auszuhalten. Andrea Breths Inszenierung erzählt all das mit einer schwebenden Leichtigkeit, die doch nur durch eine minutiöse Genauigkeit erreichbar ist. Aus der Summe der subtilen Nuancen entsteht ein unwiderstehlicher Mahlstrom, der ins Licht des Abgrunds oder auch in einen schwarzen Himmel führen mag. Die Freiheit, das zu entscheiden, gibt Andrea Breth dem Zuschauer selbst.
Julien Greens auch erschrockene Feststellung gilt der Intelligenz einer Regisseurin, die mit großer Phantasie gesegnet ist. Vielmehr gesegnet mit einer ausgesprochen kreatürlich bildhaften Phantasie, die mir als Zuschauer für jede Figur eine konkret reale Welt eröffnet. Oft wird nur durch ein winziges Detail eine ganze Existenz jäh offenbar. Wenn Georg Nigl (an der Staatsoper Berlin ) als Wozzeck in Alban Bergs Oper nach der Tötung von Marie für eine ewige Sekunde strammsteht und Habacht-Stellung einnimmt, begreifen wir schlagartig, daß eine armselige, erbarmenswürdige Soldatenexistenz einen Menschen total verbiegt und schließlich zerstört. Das war keine Pose, das war pure Not. Posen und eitles Posieren läßt Andrea Breth nie zu. Auch und gerade nicht in der Oper! Schon gar nicht auf der Bühne des großen Salzburger Festspielhauses. Im idealen, klangschön vibrierenden Zusammenspiel mit Daniel Barenboim und den Wiener Philharmonikern gelingt mit Tschaikowskys „Eugen Onegin“ ein schmerzliches Seelen- und rauschhaftes Gesellschaftspanorama von geradezu Tschechowscher Klarheit. Opernsänger entpuppen sich mit großer Selbstverständlichkeit als wahre Menschendarsteller. Was nach Routine oder Manieriertheit aussieht ist Andrea Breth immer ein Greuel. Sie weiß genau: Die schlichte Inständigkeit im Zeigen der Gefühle beseelt selbst die größte Bühne. Das Festspielpublikum in Salzburg dankte mit Jubel!
Wählt Andrea Breth einen Dichter oder Komponisten - und das geschieht nie leichtfertig, manchmal auch quälend langwierig voller Umwege -, so liefert sie sich dem Werk aus. Das passiert mit bohrend penibler unnachsichtiger Genauigkeit und intuitiv nachtwandlerisch zugleich. In dieser Ambivalenz sucht und findet sie die Blaue Blume. Nicht die Blume der Romantik, die Blume der Erkenntnis. Zwar ist es selten, aber dann doch exemplarisch, daß Andrea Breth mit ihrer Suche zweimal ansetzt: Kleists „Der zerbrochne Krug“ am Burgtheater mit Traugott Buhre als Dorfrichter Adam; und viele, viele Jahre später erneut bei der Ruhrtriennale mit Sven-Eric Bechtolf als Adam. Das war beileibe keine Korrektur, das war wie der Januskopf des Theaters. Der Kleist in Wien großes dunkel glühendes Welttheater, Adam und Eva, die Schöpfungsgeschichte und den Sündenfall im Blick. Im Ruhrpott, in der Essener Zeche Zollverein, ein luzider Realismus – wie eine Mozart-Oper nur mit Worten und glasklar musiziert. Es ist für Andrea Breth immer der Text selbst, aus dem die Modernität spricht, es sind nicht Zutaten, keine Aktualisierungen, kein Zukleistern, keine Oktroyierungen, will sagen Überschreibungen, wie es heute im flinken Theaterjargon heißen würde. Aus einer strikt auf den Dichtertext konzentrierten Haltung gelingen Geniestreiche wie „Hamlet“ (mit August Diehl) in Wien in der ganzen Fülle grausamer Wahrhaftigkeit, wie Lessings „Emilia Galotti“ mit der herzergreifenden Unschuldsschönheit der Johanna Wokalek im Wiener Akademietheater, wie Schillers „Don Carlos“ als ein grandioses Zeitstück unserer Tage am Burgtheater. Bei „Don Carlos“ keine, wie heute so oft üblich, Reduzierung auf eine minimale Sparflamme-Besetzung, nein, das große Personal des ganzen Staatsapparats ist bis in die kleinsten Rollen ausgebreitet und so entsteht wie von selbst die totale Überwachungsmaschinerie, in der Privates und Politisches, Liebesleidenschaften und Staatsintrigen sich unheilvoll tödlich verquicken. Philipps Escorial wird zu einem gefräßigen Staatsmoloch, der auch den König (Sven-Eric Bechtolf) zu verschlingen droht. Als ob Friedrich Schiller schon 1787 den bedrohlichen Zustand der Welt im 21. Jahrhundert geahnt haben könnte. Das Pathos dieser Aufführung kommt aus der genau gedachten und genau gefühlten Sprache, es ist nie hohle Rhetorik, es ist konkrete, auch heftige Leidenschaft für die jeweilige Situation. Selbst Requisiten bekommen einen tieferen Sinn: Philipp schält in der zentralen Szene mit Marquis von Posa eine Orange. Aus Gleichmut, aus Verlegenheit, aus Ignoranz? Um die heftigen Attacken des Marquis abperlen zu lassen? Der große Philipp wird dadurch plötzlich das, was er ist, ein hilfloser Mensch gefangen im System seiner Politik. Aus vielen solcher Details baut Andrea Breth eine bedrohliche Welt. Das Bühnenbild von Martin Zehetgruber und die Bühnentechnik der Burg mit all ihren Finessen und Möglichkeiten spielte für diese Atmosphäre eine bestimmende Rolle, lautlos, unheimlich, gefährlich – so sehr, daß ein Gastspiel beim Berliner Theatertreffen nicht sein konnte, denn in keiner Berliner Bühne war die Aufführung des Burgtheaters technisch möglich. Immerhin war ein Gastspiel in Berlin mit ihrer Inszenierung von „Zwischenfälle“ möglich, zwar nicht beim Theatertreffen, wo diese brillante Aufführung als ein Wunder des Theaters unbedingt gezeigt hätte werden müssen, aber in der „spielzeiteuropa“ der Berliner Festspiele. In „Zwischenfälle“ – eine Folge von 30 Kurz- und Kürzestszenen gespielt von 10 Darstellern in 90 Rollen, Szenen von Daniil Charms, Henry Cami und Georges Courteline – feiert die Symbiose von elementarer Schauspielerkomik und Virtuosität der Bühnentechnik Triumphe und steht dabei ganz beiläufig in der sehr wienerischen Tradition des Maschinen- und Zaubertheaters à la Ferdinand Raimund; Bühnenbild, wie so oft bei Andrea Breth, von Martin Zehetgruber, Kostüme von Moidele Bickel. „Zwischenfälle“ war auch ein tolles Fest irrwitzigster Katastrophen und schauspielerischer Überraschungen: Hans-Michael Rehberg beherrschte als Dirigent des musizierenden Ensembles ganz souverän die Schlagtechnik eines Pierre Boulez; Roland Koch und Peter Simonischek lieferten sich, in jeder Vorstellung improvisierend, einen wüsten Boxkampf der Worte und Gesten, der an Absurdität nicht zu überbieten war und gerade dadurch den chaotischen Zustand unserer Welt zeigte. „Zwischenfälle“ war ein Rausch des Übermuts, der fröhlichen Bosheit, des kauzigen Tiefsinns, der brutalen und zarten Körperlichkeit, des schwarzen und immer noch schwärzer werdenden Humors - und über allem schwebte musikalische Poesie. Es war, liest man die Chroniken von einst, als ob Jürgen Fehlings genialische Theaterpranke, die ein Faible für Leichtsinn und höheren Blödsinn hatte, ausgerechnet in Wien Wiedergeburt gefeierte hätte. Kann schon sein, daß die Regisseurin, der häufig der große und tiefe Ernst nachgesagt wird, sich im Geheimen gesagt hatte: „Ich möcht` mich einmal mit mir selbst zusammenhetzen, nur um zu sehen, wer der Stärkere is, ich oder ich“. Sie ist in jedem Fall immer die Stärkere, denn dass sie Komödie und selbst überdrehtesten Boulevard auch kann, hat sie mit Ayckbourns „Schöne Bescherungen“ in Bochum längst bewiesen, fulminant und zum Vergnügen von Schauspieler und Publikum.

Sie konnte schon von Anfang an sehr viel: so kam ich 1977 aus dem Staunen nicht heraus, als ich in Darmstadt das Gastspiel ihrer Wiesbadener Inszenierung von Strindbergs „Der Vater“ gesehen habe; die Arbeit einer mir noch unbekannten jungen Regisseurin mit einem unspektakulären Ensemble, doch spannend wie ein Hitchcock-Film. Und - das hatte mich besonders beeindruckt, weil ich eine solch empfindsame Haltung zu einem Stück bisher nur in Aufführungen von Hans Bauer, Werner Düggelin und Rudolf Noelte gesehen habe – Andrea Breth war absolut gerecht zu allen Figuren des Stücks. Dieses mich elektrisierende Erlebnis begründete meine bleibende Aufmerksamkeit und Neugier für ihre Arbeit. Daß Jahre zuvor der damals noch jüngere Frankfurter Dramaturgieassistent, der ich einmal war, mit seinem ersten Programmheft zu einer Aufführung von „Peterchens Mondfahrt“, die für Andrea Breth die theatralische Initialzündung für ihre Zukunft gewesen ist, wie sie selbst in dem schönen Buch von Irene Bazinger erzählt, für sie auch eine Anregung gegeben haben könnte, wage ich natürlich nicht zu behaupten. Den aufmunternden Auftrag „Paßt also gut auf!“, den Anno 63 mein Programmheft, ein Malbuch mit Text, den Kinder gegeben hatte, praktiziere ich allerdings bis heute mit Zuneigung für Andrea Breths Kunst. Deswegen, allein deswegen, erlaube ich mir doch einmal einen Wunsch zu äußern. Andrea Clausen erzählte in einem Gespräch mit Klaus Dermutz: „Ich kenne keinen Regisseur, der Liebe oder Liebesverlust, Unsicherheiten einer Liebe, die Trauer um eine Liebe, so ernst nimmt wie Andrea“.
Ich hoffe, „diese Frau“ wird einmal Andrea Clausens genaue Beobachtung auch mit Mozarts „Così fan tutte“ wahr machen. Ich hoffe, sie wird Liebesenthusiasmus und Liebesbitterkeit, Liebesglück und Liebesschmerz dieser Oper so entlocken, wie es ihr bei Tschechow, Ibsen, Shakespeare, Kleist und Schiller gelingt; wie sie es uns so beseelt und unbestechlich genau bei Arthur Schnitzler gezeigt hat. Ganz gewiß vermag sie, Mozart und Lorenzo Da Ponte mit Schnitzlers „Traumnovelle“ zu verbinden, denn sie kann uns menschliche Geheimnisse auf der Bühne begreifbar machen und zugleich das Recht des Theaters immer wieder vor Augen führen.
Andrea Breth weiß um das wahre Herz des Theaters.

Joana Maria Gorvin war eine große Schauspielerin und sie war, wie ihre Lebensgeschichte bezeugt, ein große Liebende!
Der Preis, der ihren Namen trägt, ist ein Bekenntnis zur Wahrheit und Schönheit des Theaters.

Liebe, liebe Andrea, von Herzen gratuliere ich Ihnen zu diesem schönen und besonderen Preis!

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Der Spagat

In einem Gespräch mit einer Schulklasse über Wilhelm Tell fragt mich plötzlich ein Bub, was ein Dramaturg sei. Da ich diese Frage eigentlich nicht beantworten kann, hole ich, wenn mir diese Frage gestellt wird, meist weit aus und beginne mit den alten Griechen. Ein Philosoph der Antike ist nämlich der erste Dramaturg gewesen, was natürlich nicht heißt, dass ein Dramaturg auch ein Philosoph sein muss. Jedenfalls ist der Dramaturg als Denkmaschine ans Theater engagiert. Manchmal ist er auch eine Art Papierkorb für jene Arbeiten, die übrig bleiben, weil keiner sich dafür zuständig hält. Und so pendelt der Dramaturg täglich zwischen den Polen "Denkfabrik" und "Mädchen für alles und nichts" .
Wer aber diesen täglichen Spagat aushält oder gar auf Dauer überlebt - der ist tatsächlich ein Dramaturg.

Aus: Theaternarren leben länger. 


MEINE LEHRREICHE KATASTROPHE

„Du machst es nicht gut…auch Dein Zorn gibt dir dazu kein Recht…“ – dieser strenge Vorwurf von Max Frisch an Friedrich Dürrenmatt nach dessen überfallartigem Auftritt bei einer Pressekonferenz des Basler Theaters im Oktober 1969 korrespondiert für mich mit einer Aufforderung, die Dürrenmatt an mich richtete, als wir im August 1968 auf einer Probe im alten Basler Stadttheater zusammensaßen. „Du mußt mich kritisieren“, sagte er unvermittelt zu mir, dem jungen Dramaturgen der neugegründeten Basler Theater.

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Damals begann in Basel mit dem neuen Theaterdirektor Werner Düggelin, den alle Welt nur als DÜGG kennt, ein euphorisch gefeierter Neubeginn. FRITZ, so wurde Dürrenmatt von allen genannt, gehörte ganz zentral zu diesem Neubeginn. Seine Aufforderung zur Kritik empfand ich als Ehre, konnte ich nur als Ehre empfinden, war mir doch Dürrenmatt noch kurze Zeit vorher als Schulstoff begegnet. Eine herrlich unkomplizierte Zusammenarbeit – Fritz war das freundlichste und hilfreichste Ensemblemitglied – währte ein schönes langes Jahr und nahm doch plötzlich, wie in einer Dürrenmatt-Komödie, die schlimmstmögliche aller Wendungen, nämlich in eine völlig unnötige Katastrophe, die nicht nur in den Schweizer Bergen widerhallte.

Das Bündnis Dürrenmatt – Basler Theater zerbrach mit einem beispiellosen Eklat, obwohl Dürrenmatt dieser Zusammenarbeit mit „König Johann“ und „Play Strindberg“ zwei Welterfolge verdankte. Es war Dürrenmatts Traum, in Basel endlich das zu finden, was Brecht mit dem Berliner Ensemble verwirklichen konnte – eine schöpferische Theaterwerkstatt, um für sich eine neue Theatersprache zu entwickeln. Dennoch: trotz oder sogar wegen dieser beiden Welterfolge zerschellte das Bündnis an einem simplen Faktum, das Dürrenmatt einfach nicht wahrhaben wollte: Das Basler Theater war und ist ein typisches Stadttheater und eben kein höchst privilegiertes Staatstheater, wie es das BE einst gewesen ist. Und schon gar nicht konnte dieses Basler Theater die Funktion einer Rehabilitationsanstalt übernehmen, wiewohl Dürrenmatt dies, nach einem schweren Herzinfarkt kurz nach seiner „Play Strindberg“-Premiere, von uns kategorisch einforderte, als ob wir, seine Kollegen, die Ursache seines Infarktes gewesen wären. Die Ursache war wohl, so spekuliere ich heute, seine unbändige Lust, ja Gier, alles am Theater in seine Klauen zu kriegen, sein Drang, gleichzeitig Regie zu führen und zu schreiben. Eine selbstgewählte Selbstüberanstrengung. Nun griff er als Rekonvaleszent in den Spielplan ein; er reklamierte Stücke als Bearbeiter und Regisseur für sich; er forderte willkürlich personelle Veränderungen. „Werft mich doch auf den Schindanger!“, rief er mir einmal zu. War es die Angst, nicht mehr schreiben zu können? War es Panik vor Armut? („Ach, Herr Beil, machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte mich mild lächelnd Dürrenmatts damaliger Bühnenverleger Kurt Reiss.) Oder war es ein geradezu kindlich-kindischer Trotz, mit seinem Spielzeug Theater partout nur so zu spielen, wie er es unbedingt wollte? War es gar die hundsföttische Intrige eines Schauspielers, der sich durch Dürrenmatts Einfluß eine neue Karriere erhoffte und also dessen Schwäche schamlos ausnutzte? Was war es, das Fritz dazu trieb, den Dügg „mit Rufmord erster Klasse“, wie Frisch es kritisierte „zur Sau zu machen“? Bis zur Selbstverleugnung bemühten wir uns, auf Fritz und seine Launen einzugehen - bis es eben nicht mehr ging und das Ensemble einen Riegel vorschob.

Der prinzipielle Konflikt zwischen Dürrenmatts schönem Traum und dem immer auch mühevollen Alltag eines mittelgroßen Dreispartentheaters mündete in einer Explosion. Mag sein, Fritz erhoffte sich sich meine Parteinahme für seinen Umsturz der Verhältnisse, denn daß er kein Theater leiten könne, mußte selbst ihm klar gewesen sein. Aber Verrat war nie meine Sache und dennoch empfand ich alles, was passierte, als meine persönliche Niederlage, weil ich es nicht zu verhindern wußte. Am Ende wollte Dürrenmatt unsere Direktion, wenn er sie schon nicht übernehmen konnte, mit einem gewaltigen Knall in die Luft jagen. Es gelang ihm nicht. Seine Fouls bewirkten das Gegenteil. Er scheiterte nicht nur mit seinem von ihm inszenierten Spektakel, er beflügelte das Ensemble zu einer geradezu enthusiasmierenden Energie, die Dürrenmatts fatale Verwünschungen spielend hinwegfegte und bis zum Ende von Düggs Direktion über sechs Jahre anhielt.

Zu Fritz Dürrenmatts Wahrheit gehört aber auch, daß er Jahre später, wieder an das von ihm auch schon einmal geschmähte Zürcher Schauspielhaus zurückgekehrt, in einem Gespräch mit der Schweizer Zeitschrift „Weltwoche“, seine Zeit am Basler Theater als „die schönste Zeit seines Lebens“ pries. Für mich allerdings war es tatsächlich eine höchst lehrreiche Katastrophe, deren mich fast überfordernde Zerreißproben ein elementares Training waren für alle weiteren: in Stuttgart, in Bochum und – natürlich – in Wien, dieser Stadt der allerlustvollsten Theaterkatastrophen.

(geschrieben für die Wiener "Presse am Sonntag" am 14. März 2010, die von André Heller redaktionell alleinverantwortlich gestaltet worden ist.)

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FÜR DÜGG

DÜGG, mit bürgerlichem Namen Werner Düggelin, ist ein einzigartiger Pyromane. Ein humaner Pyromane, er entzündet nämlich sich selbst. Er entzündet sich an Menschen, ich sage bewußt Menschen und gerade nicht Schauspieler, obwohl er Schauspieler liebt wie kein zweiter. Er entzündet sich an Geschichten und eben nicht an Ideen oder Themen oder abstrakten Behauptungen. Vor allem entzündet er sich an Leidenschaften. Sein Feuer ist somit schöpferisch.

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DÜGGS Inszenierung von Ben Jonsons „Volpone“ am Zürcher Schauspielhaus in Barbara Freys erstem Direktionsjahr ist die Entdeckung eines alten Stücks als wahres Stück der Stunde. Diese Entdeckung geschieht, indem DÜGG ohne modischen Firlefanz messerscharf auf den Kern des Stücks zielt und durch ein inspiriertes Spiel seines Ensembles diesen Kern zum Leuchten bringt. Seine Spielfassung erzeugt Erkenntnis als höchstes Vergnügen. Der monströse und zugleich wundersam graziöse André Jung in der Titelfigur, die undurchschaubare Eleganz des Johannes Zirner als Mosca und das feine Zusammenspiel aller erzeugen eine hellsichtige Studie über menschliche Gier, also über unseren heutigen Zustand.
Einst im theaterseligen Basel habe ich bei DÜGG viel gelernt. Und immer mehr lerne ich heute staunend von DÜGG, wenn ich eine seiner Inszenierungen sehen kann. (2011)

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„Wer liebt schon das Theater?“
Rede zur Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Rings an Barbara Nüsse                              
Bensheim, 20.März 2010

Diese Frage stellte mir vor ein paar Wochen ein Taxifahrer, der mich nach Berlin-Mitte zur Volksbühne kutschierte. Ich schwieg, aber der Taxifahrer fragte ungeniert weiter „Lieben Sie  das Theater?"

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Wann hab’ ich diese Frage zum letzten Mal gehört? Und wann hab’ ich sie mir das letzte Mal selbst gestellt? Die tägliche Selbstverständlichkeit meines Berufs als Dramaturg läßt eine solche Frage nicht zu, sie ignoriert sie sogar, denn sie wäre doch zu hinderlich. Insofern brachte mich der Taxifahrer durchaus in Verlegenheit. Was sollte ich ihm schon sagen? Die Wahrheit? Eine schöne Lüge? Der Satz meines Gevatters Peter Turrini: „Theater besteht nur aus Maskerade, aber gerade das ist das Aufrichtige an ihm“ schießt mir sogleich durch den Kopf, und ich wollte ganz gelassen antworten: Mein Herr, das geht Sie gar nichts an, doch ich sagte unwillkürlich, vielleicht um Zeit zu gewinnen: „Natürlich. Natürlich liebe ich das Theater. Was sonst?“

Und damit saß ich in der Falle, denn jener Taxifahrer ließ sich von meinem „Natürlich“ keineswegs beeindrucken. „Und das Theater? Liebt das Theater auch Sie?“ fragte er völlig ungerührt. Auf diese mich verblüffende Frage wußte ich in der Sekunde keine Antwort. Ich wüßte allerdings auch keine Antwort auf die Frage, ob der liebe Gott mich liebt, ob der liebe Staat mich liebt, ob unsere liebe Post und unsere sehr liebe Deutsche Bahn mich lieben könnten. Eine Mutter wird ihr Kind lieben. Ein Vater mag seine erzieherische Strenge als Liebe verstehen. Ein Liebespaar träumt, vor und in Liebe zueinander zu vergehen. Aber wie kann das Theater einen Menschen lieben und wie verdient er diese Liebe?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte verzeihen Sie mir, wenn ich heute hier zu diesem schönen Anlaß aus einer Rede zitiere, die ich vor 13 Jahren (auch anläßlich der Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Rings) hier in Bensheim halten durfte. Damals erhielt Corinna Harfouch den Preis, und es war ihre Vorstellung in der Berliner Volksbühne, zu der ich mit dem Taxi gefahren bin.

Von Anbeginn fühlte und fühle ich mich mit diesem mittlerweile wirklich herausragenden Schauspielerpreis, der doch in Wahrheit ein Schauspielkunst-Preis ist, verbunden, denn viele Schauspieler, mit denen ich über die Jahre und an verschiedenen Orten zusammenarbeiten konnte, haben diesen Preis bekommen. Und alle haben diesen Preis verdient, wenn wir Theater nicht sektiererisch verstehen, sondern als einen universellen Ausdruck des Lebens in künstlerischer Form. Durch die Schauspielkunst können wir immer wieder erleben, daß uns das Theater liebt. Nur durch die Schauspielkunst, denn nur diese Kunst verwandelt das Wort in Spiel, Geste, Mimik, nur diese Kunst erfindet jene Bilder, jenen Tonfall, jene atemlose Stille, die sich unvergeßlich im Gedächtnis einprägen.

So habe ich Barbara Nüsses menschliche Not im Gesicht der Gina in der Stuttgarter „Wildenten“-Aufführung des Jahres 1978 immer noch vor Augen oder ihre Qual der vergeblichen Liebe im Bochumer „Torquato Tasso“ 1980. Ähnliches könnte ich von vielen Schauspielerinnen und Schauspielern erzählen, die den Eysoldt-Ring bekommen haben. Mehr noch: die illustre Namensliste der Preisträger bildet in Summe ein tolles Ensemble, ein einmaliges Ensemble. Und hoffentlich bleibt es nicht nur ein Traum, – nächstes Jahr zur 25. Eysoldt-Ring-Verleihung –, alle Preisträger nach Bensheim einladen zu können, um mit einer gemeinsamen theatralischen Improvisation die Leuchtkraft dieses Eysoldt-Ensembles zu zeigen und dabei zu beweisen, welches Glück Theater zu schenken vermag. Bensheim wäre dann für einen Tag der Mittelpunkt des deutschsprachigen Theaters. Für einen ganzen Tag. Immerhin. So manche Theatermetropole schafft im ganzen Jahr nicht einmal einen halben Tag, behaupte ich.

Es ist für mich eine sehr persönliche Freude, daß Barbara Nüsse den Gertrud-Eysoldt-Preis 2009 für ihre eindringliche Darstellung des König Lear in Karin Beiers Inszenierung am Schauspiel Köln bekommt.

Ich danke unserer Jury, ich danke Peter Iden, Hans Dieter Jendreyko und Burkhard C. Kosminsky für ihre so gute Entscheidung.

Klaus Völker danke ich für seine Entscheidung Tilmann Köhler und seine Dresdner Inszenierung von Brechts „Heiliger Johanna der Schlachthöfe“ den Kurt-Hübner-Regie-Preis zuzuerkennen. Brechts Johanna, die einst bei ihrer Hamburger Uraufführung 1959 als angeblich überholt abgetan worden ist, scheint heute das Stück der Stunde zu sein – und das mit Recht. Aber als Stück der Stunde muß es auch inszeniert werden. Tilmann Köhler hat das getan.

Meine Damen und Herren, den Dank der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und meinen persönlichen Dank an die Stadt Bensheim, die ich nun in meiner neuen Funktion allein in den letzten fünf Monaten als eine großzügige, den Theaterkünsten geneigte Kommune kennengelernt habe, möchte ich mit einem dringenden Hinweis an uns alle verbinden. Den Hinweis auf und die Warnung vor Gefahren, die zurzeit in deutschen Landen lauern: Gefahren durch fragwürdige Entscheidungen wie z.B. in Köln, wo ganz bewußt gegen den Sachverstand und Rat der am Ort arbeitenden Theatermacher agiert wird, und völlig unsinnig die Abrißbirne gegen das denkmalgeschützte Schauspielhaus in Gang gesetzt werden soll. Oder Gefahren durch drohende Theaterschließungen aus purem bitterem Geldmangel wie z.B. in Wuppertal, ohne daß Hülfe zuteil wird von denen, die gewiß helfen könnten, wenn sie nur wollten, ich meine die Düsseldorfer Landesregierung.

Theaterschließungen sind eine schlimme Perversion des eigentlichen Sinns von Sparen. Sparen heißt doch im Ursinn des Wortes: das Leben schonen, das Leben bewahren. Der König im Märchen, so heißt es doch, „sparte ihm das Leben“, d.h. er schenkt das Weiterleben. Warum ist es so schwer, eine solche Geste in unserer politischen Praxis zu üben? Wenn Theater, die zur Seele einer Stadt gehören, geschlossen werden, ist nichts gespart, aber unendlich viel zerstört, es kann nichts mehr entstehen.

Ohne das Schauspiel Wuppertal hätte es nie Pina Bausch geben können. Ohne das Schauspiel Wuppertal wäre Barbara Nüsse vielleicht Ärztin, Lehrerin, Richterin geworden oder sie hätte gar die Leitung der väterlichen Maschinenbaufirma übernommen – aber weil sie eben in ihrer Schul- und Jugendzeit das fabelhafte Wuppertaler Schauspiel erleben konnte, wurde sie eine wunderbare Schauspielerin. Im Theater erfahren wir, welche beflügelnde Macht die Phantasie ist.

Das Theater als eine zutiefst menschliche Institution, als eine überaus sinnliche und kluge Form menschlichen Zusammenspiels wird uns lieben, wenn wir es lieben.

Gewiß, Liebe läßt sich nicht erzwingen, aber wer gelernt, begriffen und erfahren hat, daß Theater absolut lebens-notwendig ist, für den höret seine Theaterliebe nimmer auf.

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WIR SIND HALT KOMISCHE LEUT‘

Vor sieben Jahren waren es 92 Torten, die wir George Tabori an seinem 92. Geburtstag am 24. Mai 2006 im BE überreicht hatten. Am 24. Mai 2013 wären es natürlich 99 Torten gewesen und wiederum einige mehr zur Aufmunterung.

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Diese Torten entstanden wie sein Theater: wenige Zutaten und nur leichte Zutaten in feiner Balance. Es kommt ja immer auf die richtige Mischung an – und auf die Geduld in der Zubereitung. Hektik bewirkt gar nichts. Die achtzehn Stunden, die ich für die Torten in der Backschule der Berliner Bäckerinnung verbrachte , verflogen dennoch äußerst kurzweilig, ging es doch um ein poetisches Gebilde zum leibhaftigen Genuß: die Tabori-Torte. Diese Torte - französischen Ursprungs und ins Wienerische abgewandelt - vermag durchaus eine Art Rausch zu bewirken. Jedenfalls hat das Publikum all die Torten in einer Dreiviertelstunde verputzt und doch keine Nebenwirkungen verspürt außer dem Bedürfnis nach mehr. George selbst hat auf seine Weise unser spontanes Tortenfest weitergeführt: Seinem nächsten Stück, es wurde sein letztes und ein Jahr später uraufgeführt, gab er den Titel „Gesegnete Mahlzeit“. Im Essen sah George, der doch gar kein so großer Esser war, einen spirituellen Verwandlungsvorgang. „Iß, Söhnchen, nicht aus Hunger, sondern in der Hoffnung, eine Kraft in dich aufzunehmen, die du in all den kommenden Jahren brauchen wirst…“ gibt der Koch Lobkowitz seinem Freund Schlomo Herzl als Rat in „Mein Kampf“.

Immer verbindet Tabori das Essen mit Hoffnung. In „Jubiläum“ – geschrieben zum Gedenken an den 30. Januar 1933 – bricht am Ende des Stücks, das auf einem Friedhof spielt, der Musiker Arnold, der immer noch verzweifelt betet, daß man in Auschwitz doch nur Brot gebacken habe, einen Laib Brot, den ihm sein toter Vater als Geschenk gebracht hat, und gibt jedem ein Stück als Zeichen der Versöhnung. (“ MITZI: Schmeckt komisch. ARNOLD: Wir sind halt komische Leut‘.“) Und in Taboris erstem in Deutschland aufgeführten Theaterstück (es ist seinem in Auschwitz ermordeten Vater Cornelius gewidmet, die geradezu schicksalhafte Premiere war 1969 in der Schiller- Werkstatt) wurde das Essen, wurde Menschenfleisch als Menschenspeise zum zentralen, nicht nur bildhaften, sondern ganz und gar realen Vorgang. Das Stück hat den lapidaren Titel „Kannibalen“. Die Berliner Aufführung wühlte die Menschen zutiefst auf und polarisierte die Meinungen. Für Rolf Michaelis war der begeisterte Applaus ein Argument gegen das Stück. „ Da fragt man sich doch“, so schrieb er in Theater heute, „ob ein deutsches Theater (schon) der rechte Gerichtshof ist, vor dem verhandelt werden darf, ob ein Jude, um zu überleben, einen anderen Juden fressen darf…“ Für Friedrich Luft hingegen waren Stück und Aufführung ein „Wunder“. Die konträren kritischen Haltungen begegneten in den kommenden Jahrzehnten oft Taboris Theaterarbeit. Er wohl aber sah im deutschsprachigen Theater durchaus den richtigen „Gerichtshof“ und entschied sich zu bleiben und hier zu arbeiten, auch wenn es in den ersten Jahren für ihn sehr oft sehr mühsam war. „Meine Heimat ist ein Bett und eine Bühne“- das genügte ihm, um seine Themen darzustellen. Er hatte die gelassene Gewißheit, irgendwann werden die großen Theater ihre Bühne auch ihm freigeben.

Und so kam es schließlich, denn Taboris Theater ist einzig. Wie sein Witz. Selbst in seinen Träumen. „Ich hatte einmal einen lustigen Alptraum“, erzählte George Tabori gelegentlich, „ zwei kannibalistische Kritiker wollten mich als Rindsroulade verspeisen. Da sitzen sie vor dem Topf, und der eine schaut hinein und sagt: ‘Also eigentlich mag ich den Tabori nicht‘. Da sagt der andere:‘ Na dann iß nur die Nudeln‘.“ Ob Tabori wohl Nudeln mochte? Seine Leibgerichte waren Bratkartoffeln, von Ursula Höpfner gemacht, auch Palatschinken (Palacsinták) und natürlich das Wiener Schnitzel, das ihn sogar zu einem Theaterstück inspirierte, zur „Ballade vom Wiener Schnitzel“. Bei Tabori wurde Alltäglichkeit zu Metaphorik, sagte er doch stets von sich: „Ich bin ein Spielmann“.

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DER STAATSKÜNSTLER
Februar 2001 (Veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung)

Verkehrte Welt. Ausgerechnet in Berlin bin ich erstmals als Wiener gefragt. Immer wieder soll ich Kommentare zur politischen Wende in Österreich abgeben. Ich müßte doch froh sein, nicht mehr in Wien zu arbeiten, wird mir ahnungslos suggeriert. Ahnungslos, weil keiner Karl Kraus’ so treffendes Gedicht über das Berliner Theater kennt.

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Die Süddeutsche Zeitung will gar einen grundsätzlichen Artikel, die Basler Zeitung eine dicke Schlagzeile. Merkwürdig, in Wien war meine politische Meinung nie gefragt, schon gar nicht über Deutschland – und jetzt streift mich ein kurios aufgeregter Wirbel, den im Grunde ein gewisser Dr. Jörg Haider. entfacht hat. Diese Dr. Haider ist Chef der FPÖ, der Freiheitlichen Partei Österreich, die alle Freiheiten für sich beansprucht, um anderen sie einschränken zu können. „Wenn Peymann geht, wird Österreich Kulturnation“ – so „mutig in die neuen Zeiten schreitend“, hat noch selten ein Politiker geschwärmt. Ist dieser überraschende Bekennermut mehr als eine Augenblickslaune? Jedenfalls ist hier von jenem Dr. Haider. die Rede, dem alles zu jeder Zeit opportun sein kann, und der, wie bekannt, eigentlich Schauspieler werden wollte. Er wurde es nicht und schauspielert stattdessen in der Politik, zwar nicht in der Weltpolitik, wie er es wohl gerne hätte, aber immerhin lokal: Der Oberösterreicher mimt einen Kärntner. Zudem schart er, mit feiner Spürnase für Talente seiner Art, Kollegen um sich, die ebenfalls künstlerischen Ambitionen frönen. Mangelnde theatralische Begabung und Bildung aber darf in Dr. Haiders. Spielschar durch Lautstärke und Impertinenz wettgemacht werden. Phantasie kennt eben weder Grenzen noch Geschmack. Als Dr. Haider. das Werden der österreichischen Kulturnation, die ihm auch schon einmal als „Mißgeburt“ galt, visionär prophezeite, gab es freilich noch keine blau-schwarze Regierung und unsere Burgtheaterdirektion währte noch eine Zeit, stets attackiert als ein Ort der Subversion und der „subventionierten Staatsbeschimpfung“. Umso energischer betreibt Dr. Haider. nun, also fünf Jahre später, unter dankbarer Duldung seines christlichen Schauspielpartners, den er geschickt mit der Kanzlerrolle besetzt hat, sein Lieblingsprojekt. Hieß es vor Jahren einmal „Österreich fit machen für Europa“ – der Slogan der rot-schwarzen Koalition für Österreichs Beitritt in die EU –, so könnte die Parole bei Blau-Schwarz nun lauten „Österreich fit machen für Österreich“. Politik ist ja so einfach: einer verläßt ein Theater, ein anderer kommt – unter Bruch aller hochheiligen Wahlversprechen – an die Regierung und schon hat alles ganz praktische Folgen, nämlich für die Menschen. Zum Beispiel, daß ein Journalist, der dieser Wendung nicht huldigt, aus seiner Zeitung rausgeschmissen wird. Aber das ist ja nicht der Rede wert, hat doch jeder die Chance zur freiwilligen Selbstanpassung. Es soll ja alles anders werden, tönt es frohgemut im ganzen Land. Wie sehr Österreich in so kurzer Zeit tatsächlich Kulturnation geworden ist, und Träume gewiß keine Schäume mehr sind, wird demnächst die ganze Welt im Wahlkampf um das Wiener Rathaus staunend erfahren. Dr. Haiders. alles bewegende Partei will es nicht mehr nötig haben, mit rassistischer und fremdenfeindlicher Agitation Stimmung um Stimmen zu machen. Man weiß doch selbst am besten, was alles Wien den Fremden, Zugereisten und Andersdenkenden verdankt. Es ist geradezu eine Lust, Kulturnation zu sein, wenn Träume in Erfüllung gehen.

Und weil Österreich, seit Peymanns Weggang und durch Dr. Haiders Segen für Blau-Schwarz, den wahren Künstler wieder achten darf, hat auch der Begriff Staatskünstler einen neuen Sinn erhalten. In der „Wenderepublik Österreich“ ist dieses Wort nun kein Schimpfwort mehr, es ist sozusagen reingewaschen und geadelt durch Dr. Haider. höchstselbst. Sein Talent mit Worten zu jonglieren, diese durch allerlei Finessen und Finten so lange zu drehen und zu wenden, auf daß immer wieder ein neuer, blendend weißer oder auch nur g’spaßiger Sinn herauskommt, das ist eine hohe Kunst, es ist buchstäblich Staatskunst. Dieser Dr. Haider. ist ein Spitzenseiltänzer über jedem politischen Abgrund, ein Rastelli im Verschwinden- und Erscheinenlassen der Verantwortung. In diesem Fach ist er Weltmeister. Kein kleiner Chargenspieler also, sondern im wahrsten Sinne des Wortes eine absolute „Rampensau“, wie es im Theaterjargon heißt. Er läßt keine Pointe aus, die auf Kosten anderer geht, selbst die mieseste nicht. Seine Maske ist das Grinsen, die Schadenfreude seine Energie. Dr. Haider. hat so den Staat zu seiner Bühne gemacht, er ist tatsächlich der einzige Staatskünstler Österreichs. Jedenfalls solange wie Menschen seiner Staatskunst applaudieren werden. Aber das ist eigentlich ein ganz anderer Traum. Und vielleicht wird sich Grillparzers Spruch - Österreich sei „eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält“ - einmal nicht als Alptraum bewahrheiten. Vielleicht.

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GRABREDE FÜR GERT VOSS
Wiener Zentralfriedhof, 4. Sept. 2014

O hätten wir seine Stimme, um ihn zu preisen!

O hätten wir seinen Glanz, sein Strahlen und sein Staunen, um ihn zu feiern!

O hätten wir die Gewalt seines Lachens, die Schärfe seines Zorns,
seinen Haß auf die Bequemlichkeit, die Feinheit seiner Empfindung,
die Ungeduld seines Herzens und seine göttliche Empörung!

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O hätten wir seinen Durst nach Wissen, seine Abenteuerlust im Ausprobieren, seine Sehnsucht nach Genauigkeit, seine Kunst der Erregung vor und die glückliche Gelassenheit nach einem gigantischen Auftritt!

O hätten wir – um ihn zu verstehen – die Leidenschaft seines Spiels, ja, hätten wir doch seinen Enthusiamus, den Bühnenturm immer wieder zum Sternenhimmel zu machen.

Ach, hätten wir nur ein wenig von dem, was er alles hatte und konnte, dann wäre diese Stunde hier mit Herrlichkeit geschmückt, denn unsere Klage würde sich zum magischen Totenfest verwandeln. Und über allem läge Zauber!

O seine Stimme! Daß sie doch unter uns erklänge und uns erneut
beschenkte – so, wie es über Jahrzehnte geschah, da wir Gerts Stimm hörten – und sahen! Wer nämlich genau hören konnte, der vermochte auch zu sehen, wie seine Stimme die Zeichen der Wahrheit an die Wand schrieb!

Was Hofmannsthal einst an Josef Kainz rühmte – das darf, ja muß nach über 100 Jahren heute hier an einem Ort, an dem viele Geistesheroen versammelt sind, erneut verkündet werden, gerühmt an Gert Voss.

Er war der Bote aller Boten, er war ein Unverwandelter in all seinen Verwandlungen, seine Klarheit bezauberte, sein Schweigen war beredt, seine Rede glich einem Wasserfall, der uns mitriß, seine Einfachheit rührte, da sie ohne Gefallsucht war, sein Atem beseelte erdachte Geschöpfe, sein Körper glühte durch das Dichterwort, seine Augen erzählten das Leben. Er konnte fliegen, wir können es nicht.

Er bedurfte keiner Maske, seine Masken waren Gesichter und seine Gesichter waren Gesichte! So war er selbst ein Dichter in seinem Spiel!

Von weit her kam er und immer war er unterwegs. Familiär seßhaft und doch stets auf dem Sprung hinaus in das Reich der Poesie und zuletzt auch der Musik.

Das ferne Reich der Mitte war sein Ursprung. Er hat tatsächlich seine Kindheit in die Tasche gesteckt und weitergespielt. Niederlagen haben ihn nicht beirrt. Ja, es kann schon sein, daß er insgeheim mit Xi Shen, dem chinesischen Theatergott, verbündet war, der über Blitz und Donner herrscht und das Leben wie ein Spiel nimmt. Dieser Gott gilt als gefährlich. Und Gert war auch gefährlich, weil er sich mit jeder Rolle selbst in Gefahr brachte. Er begab sich immer in Gefahr, weil ihm das Theater heilig war.

Sein Leben nannte er eine Theaterreise. Er erforschte das Bernhard-Land,
er durchmaß den Shakespeare-Kontinent, er erklomm die Gipfel der der Komik und scheute keinen steinigen Weg.

Ursula, seine Frau, ist auf allen Wegen zu jeder Stunde mitgereist und hat dieses gemeinsame Leben auf die schönste Weise aufgeschrieben: ein Reiseführer zu allen Schatzinseln der Phantasie.

Nun ist Gert Voss - vollendet unvollendet – in seiner Reise endgültig zu Hause, wie es in dem Motto zu seinem Buch beschworen ist. Und wir, die wir hier zusammengekommen sind, wir sind ein Teil dieser wunderbaren, wundersamen, sagenhaften Lebensreise.

Dafür gebührt Dir unser Dank, mein lieber Gert!

„Reise leicht, nimm nichts, sagen die Weisen“, schrieb Dein Freund George Tabori in einem seiner Gedichte. Ja, reise leicht!

„Ruhige See, günstige Winde und volle Segel“ prophezeite Dir einmal Dein Prospero …

Wir aber wissen, Du bist nun ein funkelnder Stern, wir sehen Dich, wenn es dunkel ist!

Wir müssen nur aufschauen!

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SALZBURG IST EXTERRITORIAL
Eröffnungsrede zum Thomas-Bernhard-Symposion der Salzburger Festspiele 2016

„Salzburg ist exterritorial“, sagte Thomas Bernhard. Und er sagte es kategorisch, also so, als ob er jeden Einwand, auch seine eigenen Selbstzweifel, von vorneherein zurückweisen würde. Bernhard traf diese überraschende Feststellung Jänner 1986 in einem Gespräch im Café Imperial in Wien. Es war ein Gespräch zwischen ihm, Claus Peymann und mir. Es ging um RITTER, DENE, VOSS. Thomas Bernhard saß in einer Falle, in einer selbstgestellten Falle.

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Als spontane Reaktion auf das törichte, skandalöse Verbot seines Romans HOLZFÄLLEN wollte Bernhard in Zukunft überhaupt keine Aufführungen seiner Theaterstücke in Österreich mehr zulassen. Natürlich feixten seine Gegner schadenfroh: Ätsch – jetzt kann der Peymann keinen Bernhard an der Burg spielen! Tatsächlich steckte Peymann in einem Dilemma, aber auch Bernhard. Peymann bereitete die erste Spielzeit seiner Direktion am Burgtheater vor und Bernhards neues Stück RITTER, DENE, VOSS harrte der Uraufführung. Es irgendwo in Deutschland zu inszenieren – Ivan Nagel lockte bereits nach Stuttgart -, war für Peymann undenkbar, zumal Kirsten Dene und Gert Voss künftig zum Ensemble des Burgtheaters gehörten. Es war Bernhard selbst, der den Ausweg fand und mit einem genialen Schachzug sein NEIN zu Österreich in ein JA zu Salzburg verwandelte. Zu Salzburg! Trotz seines höchst widersprüchlichen Verhältnisses zu dieser Stadt. Mit der Formel „Salzburg ist exterritorial“ suspendierte er sein Verdikt. Eine Kooperation Salzburger Festspiele mit dem Burgtheater war ihm jene Brücke, die zu begehen möglich ist. Die Premiere ist exterritorial, dann sind weitere Vorstellungen in Wien nicht mehr unmöglich. Und so kam es auch.

Ein Loblied auf die Festspiele
Deswegen möchte ich ein Loblied auf die Salzburger Festspiele singen. Kaum war Bernhards Vorschlag gemacht, mußte ich auch schon, von Robert Jungbluth vermittelt, mit dem Präsidenten der Festspiele Albert Moser telefonieren, um ihm unseren Vorschlag zu erläutern. Instinktiv sagte ich am Telefon ganz einfach, aber mehrfach: „RITTER, DENE, VOSS ist so gut wie Schnitzler, das ist ein Arthur Schnitzler von heute“. Mehr bedurfte es nicht. Obwohl die Festspiele, wie üblich, ihr Festspielprogramm für 86 längst veröffentlicht hatten, ermöglichten sie kurzfristig eine Programmerweiterung. Einem Ondit zufolge auch mit huldvoller Zustimmung des Herrn von Karajan. In Salzburg entstand also als Folge eines Wiener Caféhaus-Gesprächs einer der schönsten Bernhard-Aufführungen. Die legendär gewordene Peymann-Inszenierung, im grandiosen Bühnenraum von Karl-Ernst Herrmann, spielten Ilse Ritter, Kirsten Dene und Gert Voss tatsächlich 19 Jahre lang, in Salzburg, in Wien, in Berlin und auf vielen Gastspielen. Das Stück hat sich übrigens längst von den realen Titelnamen gelöst und wird – zu Recht – immer wieder auch von anderen Schauspielern gespielt.

Warum erzähle ich so detailliert?
Weil Bernhards Formel „Salzburg ist exterritorial“ sein Verhältnis zu den Salzburger Festspielen definiert. Die Festspiele waren ihm seit seiner Jugend etwas Vertrautes, etwas Besonderes, etwas Außerordentliches, vielleicht auch geschmähter und geliebter Sehnsuchtsort, vor allem waren sie der musikalische Maßstab. Jene Dirigenten, die er in seinen Theaterstücken oder in seiner Prosa als Heilige der Musik beschwört – es sind Dirigenten der Salzburger Festspiele. Außerdem beschreibt meine kleine Geschichte die Ambivalenz von Thomas Bernhard. So wie er seine Existenz „innig lieben und gleichzeitig so entsetzlich haßen mußte“ – wie er in seinem autobiografischen Buch „Die Kälte“ konstatiert – so konnte er ein apodiktisches Nein im wahrsten Sinne des Wortes augenblicklich in ein produktives Ja verwandeln.

Begegnung mit Bernhard
Bevor ich Bernhard 1974 selbst kennen gelernt habe, anläßlich der Uraufführung der JAGDGESELLSCHAFT in Wien, Peymanns erste Inszenierung am Burgtheater übrigens, hatte ich von ihm persönlich kein Bild. Ich hatte bis dahin neben EIN FEST FÜR BORIS auch seine Prosa gelesen – FROST, KALKWERK, VERSTÖRUNG - und die in jeder Hinsicht denkwürdige Premiere und einzige Vorstellung von DER IGNORANT UND DER WAHNSINNIGE in Salzburg gesehen, nichtsahnenden von Querelen und Intrigen hinter den Kulissen, mit denen Bernhard und Peymann konfrontiert waren. (Damals kannten Peymann und ich uns noch nicht.) Das berühmt-berüchtigt gewordene Notlicht, das im Salzburger Landestheater penetrant hell leuchtet und damit eine völlige Finsternis – so Bernhards Regieanweisung – unmöglich macht, wurde nicht, wie von der Festspielleitung versprochen, in der Premiere für zwei Minuten abgeschaltet. Die Folge war: alle weiteren Vorstellungen wurden abgesagt. Thomas Bernhards lapidare Feststellung: „Eine Gesellschaft, die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt, kommt ohne mein Schauspiel aus“ ist wie eine hellsichtige Prophezeiung künftiger Konflikte, denn Taktieren war Bernhards und Peymanns Sache nie.

Von Bernhards Texten habe ich mir ein Bild gemacht, nicht vom Autor. Die Texte selbst müssen ja zunächst für sich sprechen, und die hatten eine Musikalität und eine eigenartige Form, die mich sofort interessiert hat, die mich sofort in Bann gezogen hat. Die Leidenschaft des Erzählens, die Energie der Sprache, ihr zwingender Rhythmus – all das ein neuer Ton für Themen wie Krankheit, Verfall und Zerstörung.
Als ich Thomas Bernhard nach der Wiener Premiere von DIE JAGDGESELLSCHAFT begegnet bin, war ich gleich eingenommen von ihm, von seiner direkten, sympathisch unkomplizierten Art. Vollkommen uneitel und offen, wie er mir begegnete. Und keine Spur von jener Düsterheit, die ihm so oft angedichtet wird.

Unsere Begegnungen verbanden sich immer mit Uraufführungen, zunächst in Stuttgart, dann in Bochum, bei den Salzburger Festspielen und schließlich in Wien. 1976 verschaffte uns unser Plan, in Stuttgart Goethes „Faust I und II“ zu spielen, einen mehrtägigen Ausflug zu Thomas Bernhard. Es war wie eine Landpartie. Claus Peymann, Achim Freyer und ich hatten nämlich, auf Bernhards Einladung hin, in seinem Haus auf dem Grasberg bei Reindlmühl, in der Krucka, Quartier bezogen, einem kleinen, sehr einfachen Bauernhaus, nur zu Fuß erreichbar. Ich heizte den Kachelofen, was nicht unwichtig war für unser Quellenstudium in einem kalten Haus. Wir waren sozusagen bei Bernhard zu „Faust“-Studien in Klausur gegangen. Das war in puncto Goethe erhellend und gleichzeitig heiter, nicht nur weil wir Bernhard oft trafen, sondern auch gesehen haben, wie er sich in seiner Landschaft bewegte, eben wie einer, der aus dieser Landschaft kommt und auch in dieser Landschaft, bei aller Distanz, die er dazu auch hatte, zuhause war. Es war für mich interessant zu erleben, wie er auf die natürlichste Weise mit Menschen sprechen konnte. Und es sind bei persönlichen Begegnung oft die scheinbar kleinen Momente, die sich besonders einprägen, z. B. Bernhards abruptes Anhalten während einer Autofahrt, um eine Bäuerin auf dem Feld zu begrüßen. Oder beiläufig die spontane dichterische Verdichtung, denn als Peymann ihm beim Abschied auf dem Perron des Bahnhofs Attnang/Puchheim von unseren künftigen Stuttgarter „Faust“-Plänen erzählte, also das auf der Krucka bei stundenlanger Lektüre der 12111 Verse entwickelte Spielkonzept skizzierte, brachte er unsere Ideen spontan auf die schlagende Formel als Titel der Aufführung: „Von Heinrich Faust bis Henry Ford“. Während der Probenzeit zur Uraufführung von DER THEATERMACHER in Salzburg 1985 und auch ein Jahr später bei RITTER, DENE, VOSS erlebte ich Thomas Bernhard erneut in seiner Hemisphäre. Und ich erlebte, wie Menschen ihn verehrten, als sei er ein russischer Großfürst. Auch heute noch, wenn ich in Ohlsdorf im Thomas-Bernhard-Haus oder im Gmundner Stadttheater mit Bernhard-Lesungen auftrete, spüre ich, wie stark Thomas Bernhard bei den Menschen dieser Landschaft präsent ist, immer noch.

Auf nach Wien!
1986 war ich wohl der Einzige der sogenannten Bochumer Bande, die aufbrach, die Wiener das Fürchten zu lehren, der ahnte, was auf uns zukommen würde, ich kannte ja die Wiener Theater- und speziell die Burgtheatergeschichte. Über kein Theater der Welt ist so viel geschrieben worden und über kein Theater der Welt wird so viel erzählt und gelästert wie über die Burg. Deswegen hatte ich, als Wiener nahm ich mir dieses Recht heraus, eine Scheu, an die Burg zu gehen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß es gut gehen würde. Es ist dann – o Wunder - gut gegangen, aber welche Turbulenzen, welche Kämpfe, welche Glaubenskriege, welche Schlammschlachten, welche Anfeindungen…,aber auch welch enthusiasmierende Zuneigung und Begeisterung vieler Zuschauer. Und welche Begeisterung für Thomas Bernhard. Unser Beginn am 1. September 86 war schon ein Paukenschlag. „Was hier in dieser muffigen Atmosphäre, als ob ich es geahnt hätte…“ – mit diesem Stoßseufzer des Theatermachers Bruscon (von Traugott Buhre ideal gespielt) bei seinen ersten Auftritt wurde im Grunde die „Weltkomödie Österreich“, um einen Begriff Thomas Bernhards zu zitieren, eröffnet. Das Publikum hatte verstanden. Für die einen war der Dichter der leibhaftige Gottseibeiuns, für andere wiederum der wahre Repräsentant österreichischer Literatur, der endlich auf die Bühne des Nationaltheaters gehörte. „Wenn ich RITTER, DENE, VOSS nicht wenigstens einmal im Monat sehen kann, dann geht es mir schlecht“, bekannte flehend ein notorischer Wiener Theatergänger, stand dieses Stück einmal nicht auf dem Spielplan des Akademietheaters.

Thomas Bernhard nahm großen Anteil an unserem Start am Burgtheater. Nicht nur, weil wir dort seine Stücke spielen würden, sondern er interessierte sich dafür, wie das alles weitergehen würde, weil er immer mit dem Schlimmsten rechnete, nämlich damit, daß unsere Burgtheaterzeit sehr schnell wieder zu Ende sein könnte. Wenn es um die Burg geht, können die Wiener schnellen Prozeß machen. Das hat Tradition. Wie heißt es doch im THEATERMACHER? „Das Gewesene, das fortwährende Gewesene…“ Dabei wollte sich Bernhard um keinen Preis kulturpolitisch vereinnahmen lassen – auf seine empörte Forderung hin sagte Peymann das Gastspiel des Burgtheaters mit THEATERMACHER bei der sogenannten Europalia, einem Österreich gewidmeten Festival in Brüssel, kurzfristig ab. Bernhard war jede „Selbstdarstellung als Selbstaufblähung des mir in allem und jedem widerwärtigen gegenwärtigen österreichischen Staats“(so er) verhaßt.

„ Ich darf mich in Brüssel nicht von den österreichischen Ministerialbeamten als Kulturpolizisten mißbrauchen und exekutieren lassen“, schrieb Bernhard ultimativ an Peymann. Aber in den entscheidenden Momenten hat Bernhard uns sehr unterstützt. Er machte Claus Peymann immer wieder Mut, den Kampf um die Burg nicht aufzugeben. Schon im Voraus wollte er ein mögliches Scheitern quasi durch Beschwörung bannen, jedenfalls schien es mir so, als ich die höchst sarkastischen Passagen über die Institution Burgtheater als eine tödliche „Kunstmühle“, in der der jeweilige Burgtheaterdirektor zermahlen wird, in seinem 1984 erschienenem Roman HOLZFÄLLEN las. Es war schließlich nicht nur die Solidarität zu meinen Kollegen, die meine instinktiven Vorbehalte gegen die Burg überwinden half, es war auch der Wunsch, weiterhin an Thomas-Bernhard-Uraufführungen mitarbeiten zu dürfen. Es war ja immer etwas Besonderes, auf seine Stücke zu warten und sie vorzubereiten. Vor allem war es dann die große Überraschung, wie sich die Stücke im Spiel der Schauspieler auf der Bühne wunderbar entfalteten. Ich weiß noch genau, wie ich Peymann einst in Stuttgart vorgeschlagen habe, Bernhard möge doch das 3. Bild in dem Theaterstück MINETTI überarbeiten, es müßte dialogischer sein usw. Peymann wehrte ab und hatte Recht, die Szene erweist sich nämlich erst im Spiel. Das Zusammenspiel zwischen dem monologisierenden alten Schauspieler (Bernhard Minetti) und dem schweigsamen jungen Mädchen (Therese Affolter) war nicht nur überaus beredt, es war eine zarte, melancholische Liebesszene. Es gibt eben „Redekünstler“ und es gibt „Schweigekünstler“ – so heißt es treffend in dem in Salzburg uraufgeführten Theaterstück AM ZIEL. Aus Reden und aus Schweigen entsteht Bernhards Dramatik.

HELDENPLATZ
Wie ein roter Faden in meiner Zusammenarbeit mit Claus Peymann, die 1974 in Stuttgart begann, erscheint immer wieder Thomas Bernhard. Elf Bernhard-Uraufführungen in all den Jahren. Die Wiener Zeit ist mir natürlich besonders präsent. Welche Burgtheaterdirektion hat im vergangenen Jahrhundert dreizehn Jahre lang gedauert? Welche Direktion hat solche Zerreißproben und Anfeindungen überstanden? Und ein Dichter im Mittelpunkt dieser Stürme. Thomas Bernhards HELDENPLATZ - der größte Skandal und der größte Triumph. Allein die hysterischen, aberwitzigen Begleitumstände und der Sieg eines Theaterstücks gegen die geballte öffentliche Meinung sind schon eine Thomas-Bernhard-Komödie für sich. Erst ein wochenlanges mediales und politisches Trommelfeuer, um HELDENPLATZ zu verhindern und Bernhard samt Peymann abzuschießen. Der Mechanismus war wie gehabt, aber diesmal wie in einem nationalen Wutanfall auf die Spitze getrieben. Bekanntlich sind neue Theaterstücke bis zu einer Buchveröffentlichung und bis zur Uraufführungspremiere urheberrechtlich geschützt. Nur scherte das niemand. Journalisten verschafften sich illegal den Stücktext, zitierten ebenso illegal und wahllos daraus und heizten damit einerseits die Anti-Kampagne mächtig an. Andererseits wurden Bernhard und Peymann der Skandalsucht bezichtigt. Es war eine Hetz, die bösartige Formen annahm. Gab es in der Barockzeit in Wien das sogenannte Hetztheater, in dem zur allgemeinen Volksbelustigung Tiere aufeinander gehetzt worden sind, so sind es in der Neuzeit Leserbriefkanonaden, groteske Verdächtigungen und anonyme Zuschriftenbombardements, die vom Boulevard, sprich „Kronenzeitung“, entfacht werden, um zornige Volkesstimme zu suggerieren, die dann, bis auf wenige Ausnahmen, von der politischen Klasse panikhaft aufgegriffen und verstärkt wird. Für den Regisseur Peymann, der das Trommelfeuer auf den Direktor Peymann abwehren mußte, und für die Schauspieler habe ich heute noch Bewunderung, wie sie in dieser ohrenbetäubenden Kakophonie die Konzentration für die Proben bewahrt haben, auch gegen Anfeindungen im eigenen Haus. Wolfgang Gasser, er spielte die Rolle des Professor Schuster, stand unbeirrt und unbeirrbar zur Botschaft des Stücks. Die plötzlich atemlose Aufmerksamkeit, die er in der Premiere im 2. Akt dem Text verschaffte, bewirkte sein wahrhaftiges Spiel, ein Spiel, das Bernhards Text beglaubigt hat. Thomas Bernhard sah in Wolfgang Gasser buchstäblich einen Glücksfall. Die Premiere war in der Tat wie ein Sturm, ein Sturm allerdings, der den Himmel wieder frei fegte. Alle, die gegen HELDENPLATZ waren, verstummten, taten so, als ob nichts gewesen wäre. Die von Thomas Bernhard so geschätzte NZZ meinte sogar ein wenig später: „Heldenplatz erwies sich als keine Erregung“. Grotesker und folgerichtiger hätte es nicht ausgehen können. Ganz nach dem Motto von Karl Kraus: „In Österreich ist öfter schon alles drunter und drüber und dennoch schließlich ins Burgtheater gegangen.“ Von der Premiere gibt es einen kompletten Tonmitschnitt, einschließlich des dreiviertelstündigen tumultuösen, schließlich jubelnden Schlußbeifalls. Heute hört sich das an wie ein grandioses Kasperletheater, damals ging es um Alles oder Nichts. Für Thomas Bernhard war es ein großer Sieg. Leider war’s sein letzter Sieg. Und es war sein letzter öffentlicher Auftritt, auf der Bühne des Burgtheaters den Beifall entgegennehmend. Wir haben HELDENPLATZ 120 Mal an der Burg gespielt, und es war auch deswegen ein beispielloser Erfolg, weil die politische Wirklichkeit Österreichs mit ihren permanenten Skandalen Bernhards Stück immer wieder aufs Neue bestätigt hat. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ein Blick in die Zeitungen genügt. Für mich ist HELDENPLATZ eine der drei großen politischen Komödien Österreichs: „Professor Bernhardi“ von Schnitzler, „Herr Karl“ von Merz/Qualtinger und HELDENPLATZ. Eine Komödie aber nicht nur für Österreich, das Stück ist mehrfach in Paris inszeniert worden und unsere Gastspiele in Deutschland hatten immer eine unmittelbar starke Wirkung. „Bei uns in Deutschland gibt es leider keinen Autor, der so ein Stück schreiben kann, keinen, der unsere ganze Misere mit dieser Wucht auf die Bühne bringt“, klagte ein Berliner nach einer Aufführung beim Berliner Theatertreffen.

Immer wieder bin ich erstaunt über die anhaltende Wirkung Thomas Bernhards, die ich beim Publikum beobachten kann. Es geht mir selbst nicht anders. Lese ich seine Freundschaftsgeschichte WITTGENSTEINS NEFFE, habe ich das Gefühl, das ist Thomas Bernhard pur. Auch in der harten Abrechnung mit sich selbst: „Ich bin kein guter Charakter, ich bin keine guter Mensch“. Trete ich zusammen mit Peymann in den drei Dramoletten CLAUS PEYMANN KAUFT SICH EINE HOSE UND GEHT MIT MIR ESSEN in Wien, Berlin, Prag, Brüssel oder sonst wo auf, so habe ich das Gefühl, das ist Thomas Bernhard pur. In diesen dramatischen Miniaturen über Theaterwahnsinn und Theaternarren steckt großes Theater, denn wie könnten sie sonst mit Erfolg vor einem Publikum gespielt werden, das die realen Vorbilder der Figuren gar nicht kennt, wie in Italien oder Frankreich zum Beispiel.

Einfach kompliziert
Thomas Bernhard ist immer Komiker und Tragiker: ein Tragikomiker oder ein Komiker, der sehr tragisch ist – so wie die größten Komiker oft traurige oder melancholische Menschen sind. Deswegen sind seine Texte so einfachkompliziert. Manche Literaturkritiker meinen, es gäbe bei Bernhard nur Schwarz-Weiß, sie sehen nicht die Ambivalenz, die Realität und deren Kehrseite, das Konkrete und zugleich die vielen Schichten dieser Texte. Bernhard war nie, denke ich, an einer Logik der Fakten interessiert. Die Logik seines künstlerischen Schaffens meint nicht die Oberfläche des Lebens, sie kehrt dessen dunklen Seiten ans Tageslicht. Es gibt ein Gedicht von Samuel Beckett, das heißt in der Übersetzung von Karl Krolow: „Bis zum Äußersten gehn/dann wird Lachen entstehn“. Ist das nicht eine schöne Definition von Bernhards schriftstellerischer Methode? Es liegt eine Kraft, eine Energie in seinen Sätzen. Bei jeder Lesung entdecke ich neue, wichtige Nuancen in der Musik des Textes. Deswegen sind die Lesungen im Ausdruck und Wirkung jedes Mal anders. Das laute Lesen ist eine elementare Methode, Bernhards Dichtungen genauer zu studieren, genauer zu erleben und so überraschende Entdeckungen zu machen. Bernhards Prosa ist absolut gestisch, ist Rollenprosa. Wer einmal Peter Fitz mit seinem grausam verzweifelten, auch gegen sich selbst wütenden und zugleich umwerfend komischen Riesenmonolog in BETON erlebt hat, versteht, was ich meine. Bernhards Romane werden neuerdings immer wieder auf die Bühne gebracht, die Energie seiner Sprache verlockt dazu und die scharfe Konstellation der Figuren, aber wenn die Struktur seiner Texte leichtfertig verändert wird, richtet sich das gegen Bernhard, denn seine Prosa ist eine Art immerwährender Monolog. Und doch zielen paradoxerweise seine Texte auf ein Gegenüber. In der Prosa, in den Dramen. Seine Theaterstücke sind tatsächlich Theatertexte, was ja nicht von jedem Theaterstück gesagt werden kann. Bernhards „Textflächen“ sind sehr konkret, sind emotional erlebbar, sind unmittelbar zu spielen.

Über seine schriftstellerische Arbeit hat sich Bernhard kaum geäußert, über seine Stücke auch nichts vorweg ausgeplaudert, manchmal hat er sogar bewußt falsche Fährten gelegt. War das Stück fertig, dann erst war es für ihn abgeschlossen und durfte gelesen werden. Auch wollte Bernhard jedes Stück so schnell wie möglich aufgeführt sehen, damit sein Kopf wieder frei war für die nächste Arbeit. Zu welchen Zornesausbrüchen es bei ihm kommen konnte, wenn am Theater die üblichen Verzögerungen eintraten, davon künden die Briefe an seinen Verleger Siegfried Unseld oder an Peymann. Im Grunde schien ihm schon eine einzige Vorstellung zu genügen, wenn sie nur gut war. Für Stuttgart machte er uns einmal den Vorschlag, ein Silvester-Stück zu schreiben. Das ganze Ensemble sollte darin spielen, natürlich die besten Schauspieler, Uraufführung am 31. Dezember und tatsächlich nur eine einzige Vorstellung, eben die Silvestervorstellung, Titel des Stücks: „Das böse Omen“. Wir hatten damals das Stück sogar angekündigt, aber geschrieben hat es Bernhard nicht.

Das Geheimnis eines Menschen ist selten zu ergründen. Das Geheimnis von Thomas Bernhard ist allerdings aufgeschrieben in seinem Gesamtwerk.
Bernhard überall

Um Bernhard zu ergründen, müsste man sein Gesamtwerk gelesen haben, aber dann hätte man ihn, so vermute ich, noch immer nicht ergründet. Der Mensch Thomas Bernhard ist naturgemäß auch ein anderer als der Schriftsteller Thomas Bernhard. Und so ist es eher kurios, wenn nicht lächerlich, wie in letzter Zeit immer wieder – auch von deutschsprachigen Schriftstellerkollegen - versucht wird, Thomas Bernhard zu „demaskieren“ oder sein Privatleben bis ins Intimste auszuforschen, um irgendwelche Aufschlüsse oder Widersprüche zu seinem Werk zu finden. Andererseits ist Bernhards Werk für fremdsprachige Schriftsteller Stimulans und Herausforderung.

Der österreichische Kabarettist Werner Schneyder hat unmittelbar nach Thomas Bernhards Tod lauthals verkündet: „In zehn Jahren redet niemand mehr von ihm“. Schon einige Jahre später mußte er prolongieren: „Nach zwanzig Jahren redet niemand mehr von Bernhard“. Herr Schneyder wird sich wohl öfters revidieren müssen. Die Wirkung Thomas Bernhard ist nämlich ungebrochen. Er wird immer wieder neu gelesen, neu gespielt und neu durchdacht. Studenten aus Frankreich, aus England, aus Korea befragen mich für ihre Doktorarbeiten über Thomas Bernhard; ein Übersetzer aus Ägypten überträgt den THEATERMACHER ins Arabische und will wissen, was eine Jausenstation ist oder der Blutwursttag bedeutet. Die Wirkung von Bernhard ist tatsächlich weltweit und sie hält an, auch deswegen, weil Menschen sich immer noch und immer wieder mit seinem Werk beschäftigen. Eine Lesung von WITTGENSTEINS NEFFE an der Pariser Sorbonne ist überfüllt von Studenten, die das Werk genau kennen, an ihren Reaktionen ist es zu merken. In der Berliner S-Bahn sitzt ein junger Fahrgast, der ein Buch von Thomas Bernhard liest und fröhlich in sich hinein kichert. In der New Yorker „Neuen Galerie“ am Central Park höre ich beiläufig eine Unterhaltung von Galeriebesuchern über Thomas Bernhard und in einem Supermarkt in der Bretagne liegt an der Kasse ein Buch über Thomas Bernhard aus. Überall auf der Welt wird Bernhard gespielt, auch in Peking oder in Montevideo. Nach seinem Tod gab es ja Leute, die meinten: „ Jetzt hat es sich endlich aufgehört mit Bernhard!“. Das Gegenteil ist der Fall, denn viele jüngere Theaterleute entdecken Bernhard neu, vor allem die Schauspieler. Das ist ja überhaupt das Schönste in der Wirkung, daß die Schauspieler von Anbeginn an begriffen haben, welch besonderer Schauspieler-Autor Bernhard ist. Die Schauspieler haben Lust, seine Stücke zu spielen, sie haben geradezu eine Gier nach seiner Sprache. Bernhards Blick und Begeisterung für Schauspieler inspirierte ihn immer wieder zu Stücken für Schauspieler, für Minetti, für Marianne Hoppe, für Hugo Lindinger, für Bruno Ganz, für Ilse Ritter, für Kirsten Dene, für Gert Voss. RITTER, DENE, VOSS entstand nachdem er an einem Wochenende in Köln Ilse Ritter in AM ZIEL und in Bochum Kirsten Dene und Gert Voss in HERMANNSSCHLACHT gesehen hatte. Intelligente Schauspieler lautet Bernhards Widmung an die Drei. Der einzigartigen Edith Heerdegen, die in DER WELTVERBESSERER die schweigsame Frau höchst beredt spielte, wollte Bernhard aus Dankbarkeit ein Denkmal im Stuttgarter Schloßgarten setzen.

Rollen für Schauspieler
Bernhard liebte Schauspieler und er hatte ein untrügliches Theatergespür, er war, fast schon im goetheschen Sinn, „ein alter Praticus“. Als der wunderbare Schauspieler Hugo Lindinger starb – für ihn schrieb Bernhard die Rolle des Wirts in DER THEATERMACHER – wünschte sich Bernhard ausdrücklich eine Besetzung der Rolle nicht mit einem ähnlichen Schauspieler, sondern eine ganz konträrer Besetzung, er verlangte geradezu Josef Bierbichler für den Wirt. Ich konnte Biebichler überzeugen und es zeigte sich einmal mehr, daß ein andere Schauspieler einer Rolle eine völlig andere, neue Charakteristik zu geben vermag. Ja, Bernhard liebte Schauspieler und es kann schon sein, daß er insgeheim einen Guckkasten in seinem Kopf gehabt hat, der von Schauspielern bevölkert war. Ebenso von Schauplätzen, von Orten, die ihn faszinierten.

Das Geheimnis der Orte
Ob es der Pavillon Hermann auf der Baumgartnerhöhe, das Café Ambassador, die Singerstraße oder Gentzgasse, ob es Schloß Wolfsegg mit seiner geheimnisvollen Kindervilla, der Friedhof auf Palma oder der Döblinger Friedhof, das Bauernhaus mit der großväterlichen Wohnung in Ettendorf, das Sterbezimmer des Salzburger Landeskrankenhauses, die Operngarderobe, das Kalkwerk „Unterm Stein“, der Gasthof Holzapfel , Bernhards Vierkanthof in Obernathal oder schließlich der Heldenplatz ist, es gibt viele reale Orte in seinen Erzählungen, Romanen und Theaterstücken, die eine Autor wie Leser inspirierende Wirkung haben. Bernhard machte sehr oft seine Fiktionen an realen Orten dingfest. Und gerade diese Orte entfalten eine eigentümliche Magie: Ein Gefühl der Bedrohung, des Geborgenseins, der Verheißung, der Katastrophe oder der Faszination. Immer haben diese Orte auch eine theatralische Wirkung, auch wenn sie eng, schmutzig, dunkel, tödlich sind. Und wenn sich die seltene Möglichkeit ergibt, in eine dieser Bernhardschen Fiktionen ganz real einzutauchen, ist man unversehens aufgehoben in einer eigentümlichen Konstellation, man gibt sich drein und erfindet sie zugleich neu. So erging es mir als Museumsdiener Irrsigler. In einem Saal des Kunsthistorischen Museums, den Thomas Bernhard den Bordone-Saal nennt, vor Tintorettos „Weißbärtigen Mann“ seine Roman-Komödie mit dem hintersinnigen Titel ALTE MEISTER zu spielen, lehrte mich, wie sehr die von Bernhard gewählten Orte und Gegenstände absolut kein austauschbares Dekor sind, sondern sich untrennbar mit seinen Figurenkonstellationen, die doch Lebenskonstellationen sind, verbinden. Im Angesicht des originalen „Weißbärtigen Mannes“ agieren zu dürfen, ließ uns, also Martin Schwab, Erwin Steinhauer und mich, sehr direkt erleben, welche Kraft allein von einem Bild ausgehen kann, einem Bild, von dessen Geheimnis der Leser oder Zuschauer durch die Figuren Reger, Atzbacher und Irrsigler permanent etwas Neues erfährt. Es ist wie ein Blick durch ein Gesicht hindurch auf ein ganzes Leben. Sei es nun das rätselhafte, ganz aus dem Schwarzen kommende Männerporträt Tintorettos, sei es das im wahrsten Sinne erbarmungswürdige Frauengesicht der Anna Härdtl in BETON – diese Gesichter geben Bernhards Texten eine Perspektive, der sich der Leser oder Zuschauer nicht entziehen kann. Es entstehen Durchblicke in ein tiefes Bild, in das Leben Die immer wieder gerühmte musikalische Form Bernhards ist ja kein atmosphärisches Gewaber, sondern durch und durch Konstruktion. Freilich sind es keine abstrakten Thesen, welche die Konstruktion ausmachen, sondern Gesichter, Gegenstände, Orte. Damit zu spielen und sich selbst dabei nicht zu schonen, das ist Bernhards Kunst. Oft waren es Begegnungen, Ereignisse oder beiläufige Zeitungsnotizen, die zum Anstoß für eine Erzählung oder ein Theaterstück wurden. Aber auch ein von ihm dezidiert ausgesprochenes Nein konnte bei ihm etwas bewirken. Als Peymann in Bochum mit Bernhard Minetti und Traugott Buhre die Uraufführung von DER SCHEIN TRÜGT inszenierte, rief ich Thomas Bernhard an und bat ihn, um einen Beitrag für das Programmbuch. Nein, er könne nichts dafür schreiben, nein, er habe auch keinen unveröffentlichten Text dafür, nein, er habe keine besonderen Wünsche, nein, nein, ich solle doch so machen, wie ich es mir denke…das war seine freundlich bestimmte Antwort. Ein paar Tage später erhielt ich überraschend einen Expressbrief aus Ohlsdorf, in dem Bernhard ganz lakonisch schrieb: „Ihr Telefonat hat diese Skizze geboren. Indem ich zu Ihnen nein sagte, hatte ich zu mir ja gesagt.“ Das ist Thomas Bernhard in nuce. Seinem Brief lag ein kurzer Prosatext bei, geschrieben auf jener Schreibmaschine, die mir von seinen Theatermanuskripten bekannt war. Auch über diese Erzählung läßt sich sagen: Thomas Bernhard in nuce. Dieser „Reisebericht an einen einstigen Freund“ – so der Untertitel – erzählt von einem Traum, in dem der Träumende wiederum im Traum erlebt, wie „dieses ganze widerwärtige, schließlich nurmehr noch bestialisch stinkende Österreich vor meinen Augen in Flammen aufgegangen ist“. Der Träumende wacht in Rotterdam auf. „Zu meinem großen Glück in Rotterdam, in jener Stadt, die mir aus allen Gründen von allen Städten die nächste und also die liebste ist, wie Sie wissen“, heißt es am Ende dieser Erzählung, die den Titel IN FLAMMEN AUFGEGANGEN trägt und Bernhards HELDENPLATZ-Thematik vorwegnimmt. Aber als das Schauspielhaus Bochum mit DER SCHEIN TRÜGT, also mit der Inszenierung des designierten Burgtheaterdirektors Peymann, in Wien gastierte, nahm niemand von diesem Prosatext Notiz. (Weil Programmbücher einfach nicht gelesen werden?) Bernhard wußte durchaus um die Vergeblichkeit seines Schreibens - „Das ganze Leben ist ja ein einziger Protest, aber es nützt gar nichts…Was die Schriftsteller schreiben, ist ja nichts gegen die Wirklichkeit…die Wirklichkeit ist so schlimm, daß sie nicht beschrieben werden kann…“-, dennoch schrieb er weiter, es war seine Methode, die Welt auszuhalten. Mehr noch: Es war seine wahre Lebenslust. Eine Lebenslust freilich, in der „Zorn und Verzweiflung meine einzigen Antriebe sind, und ich habe das Glück, in Österreich den idealen Ort gefunden zu haben.“ Der Roman AUSLÖSCHUNG. EIN ZERFALL und HELDENPLATZ spielen an und mit diesem „idealen Ort“. Es sind menetekelhafte Werke, die wie eine Summe wirken und doch kein Schlußpunkt sind. Textentwürfe zeugen davon. „Matterhorn“, „Karakorum“ oder „Neufundland“ sind die Titel zu einem neuen Roman; „Die Schwerhörigen“ ist der Titel zu einer Tragödie, die naturgemäß als Komödie sich hätte entpuppen können, wenn sie von Bernhard vollendet worden wäre. „Die menschlichen Anstrengungen enden immer mit einer Katastrophe…“, sagt darin ausgerechnet ein Brückenbauingenieur, der „ über Brücken redet“ zu einem Privatphilosophen, der „über alles redet“.

Thomas Bernhards philosophisches Lachprogramm, wie er es einmal nannte, war ja im Grunde schon in seinem ersten, 1952 veröffentlichten Gedicht angekündigt. Thomas Bernhards Gedicht beginnt mit den Zeilen:
„ Vieltausendmal derselbe Blick durchs Fenster in mein Weltenstück…“

(Eröffnungsrede zum Thomas-Bernhard-Symposion der Salzburger Festspiele 2016)

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Thomas Bernhard (r) und Hermann Beil (l) in der Hauptprobe zu "Heldenplatz", 2. Nov. 1988 Burgtheater.

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